96 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Auf eine breite Resonanz durfte Arnold Paucker daher kaum rechnen, als er 1970 mit einer Rezension in der ZEIT das Schlagwort vom»jüdischen Fontane« erneut in Umlauf brachte. 76 Wichtiger bleibt denn auch, dass es ihm gelang, den in Kopenhagen überlieferten Nachlaß des Autors in das Archiv des Leo Baeck Instituts zu überführen. Als historische Quelle für die Literatur- wie für die allgemeine Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, zumal aber als Zeugnis der untergegangenen Kultur der deutschen Juden, ist dieser Bestand von großem Wert, weit hinaus über seine Relevanz für die Erforschung eines»guten Autors zweiten Rang es«, wie Georg Hermann in jüngerer Zeit charakterisiert worden ist 77 . Arnold Paucker hat die Schriften des»jüdischen Fontane« nach eigener Aussage übrigens erst im Dritten Reich kennengelernt, denn»der Lieblingsschriftsteller der assimilierten deutschen Juden war natürlich Fontane selbst(trotz seiner gewiß zweideutigen Einstellung zu Juden und zum Judentum)«. Zwar dürfte jemand, der zum Zeitpunkt der Machtübernahme gerade einmal zwölf Jahre alt war, überhaupt erst wenig an Literatur gekannt haben.»Wie viele Jugendliche in der Berliner jüdischen Jugendbewegung« habe er jedoch auf Grund der von oben verordneten und schließlich trotzig angenommenen Ausgrenzung auch Georg Hermann gelesen.« 78 Eine ausgewogene Bewertung muß beides im Blick behalten, Fontanes unbestreitbare, wiewohl in ihrer Tragweite bisweilen überschätzte und anachronistisch mißdeutete Vorurteile gegenüber Juden wie auch die Verehrung, die ihm seitens eines jüdischen Lesepublikums entgegengebracht wurde und wird. Für Betty Scholem, die sich vor der lebensbedrohenden Verfolgung aus Berlin nach Australien gerettet hatte, wurde»dieser Preuße mit seiner großen Liebe für den märkischen Adel und seinem kleinen Schuß Antisemitismus« geradezu eine Art Heimatersatz, wie sie 1941 ihrer Schwiegertochter in Jerusalem gestand, die sich gerade in seine Romane vertieft hatte:»Die einzigen Bücher, die ich mitnahm, waren Fontanes Werke, und ich lese sie immer wieder.... Ich bin eine begeisterte Fontänin.« 79 Noch auf dem Höhepunkt des Holocaust ließ sich mithin beobachten, was Fontane in seinem vielzitiertem Gedicht An meinem Fünfundsiebzigsten, etwas herablassend, mit den Worten kommentiert hatte:»Abram, Isack, Israel, Alle Propheten sind zur Stell... Jedem bin ich was gewesen, Alle haben sie mich gelesen«. 80 Auf seinem Irrweg durch die halbe Welt – von Berlin über Palästina, Ägypten, Italien und Amerika nach London – hat Arnold Paucker zwar keine Bücher mitnehmen können. Er hat sich jedoch im Antiquariatshandel alles wiederbeschafft, was er in seinem Elternhaus hatte zurücklassen müssen, und konnte so die lebenslange Fontane-Lektüre(»aber nur in Originalausgaben«) bis über seinen fünfundneunzigsten Geburtstag hinaus fortsetzen.
Heft
(2020) 109
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