Der Stechlin , ein politischer Zeitroman Stolleis 119 Funktion in der Handlung erfüllen. Am schwächsten vertreten[…] ist der bürgerliche Stand, vor allem die sogenannten Freiberuflichen: Ärzte, Pfarrer, Juristen, Lehrer und Handeltreibende. Sehr profiliert sind hingegen die»kleinen Leute«[…]. 8 Ich möchte mich vielmehr, um endlich zur Sache zu kommen, Fontanes »Distanzen« oder»Nicht-Identifikationen« zuwenden. a) Zunächst die Distanz zum»politischen Berlin«. Fontane versieht vieles mit kritischen Streiflichtern. Aus verschiedenen Perspektiven wird der neue protzige Stil bemerkt,»seit wir Kaiser und Reich sind«, wie der Gardedragoner Czako sagt, und er fährt später fort, indem er sich auf den unangenehmen Bourgeois Gundermann bezieht:»so sind die meisten. Phrase, Phrase, Phrase. Mitunter auch Geschäft oder noch Schlimmeres«(4. Kap.).»[…] wir Deutsche sind wieder obenauf, ein bißchen zu sehr. Aber immer besser als zu wenig«, sagt der Lehrer Krippenstapel(5. Kap.). Am Hof herrscht Frömmlertum, auch wenn der reaktionäre und antisemitische Hof- und Domprediger Adolf Stoecker nun(1890) vom Kaiser aus »Gründen« entlassen wurde. Aber Frömmigkeit fördert in Berlin die Karriere eines Beamten:»›fromm‹ is wie’ne untergelegte Hand«, sagt der alte Stechlin(5. Kap.). Auch die Spannungen zwischen Bismarck und Wilhelm II. kommen zur Sprache, etwa wenn Dubslav erwägt, Kiebitzeier nach Friedrichsruh zu schicken, es aber unterlässt, weil zu viele Sympathien für Bismarck nun als schädlich gelten und angeblich die Polizei ein Auge darauf hat (39. Kap.). Das ist gewiss nicht ernst gemeint, aber doch ein Hinweis. Als besonders unangenehm erscheint das nationalistisch getönte Frömmlertum, wenn es sich mit dem aufsteigenden Antisemitismus verbindet, also mit dem schändlichen Impuls von Heinrich von Treitschke und dem Treiben des Hofpredigers Stoecker. Fontane zeigt dies an Vater und Sohn Hirschfeld sowie an dem Arzt Dr. Moscheles. Als Superintendent Koseleger »einen philosemitischen Zug« bei Stechlin feststellt, reagiert dieser aggressiv, ja einen solchen Zug habe er wirklich,»weil er Unchristlichkeiten nicht leiden kann und Prinzipienreitereien erst recht nicht«(37. Kap.). b) Die Distanz zum politischen Berlin wird konkreter in der Distanz zu Bismarck selbst und zu seinen Nachfolgern Caprivi(1890–1894) und Hohenlohe-Schillingsfürst(1894–1900), letzterer wird benannt als»der alte Fürst, der jetzt dran ist«(10. Kap.). Bismarck selbst ist zur Zeit des Romans schon fast als historische Figur entrückt. Seine politische Leistung der Reichsgründung ist unbestritten, nicht nur beim märkischen Adel, sondern auch bei Fontane selbst. Der 80. Geburtstag Bismarcks am 1. April 1895 hatte alles noch einmal in Erinnerung gerufen. Was nun aber negativ verhandelt wird, ist die Nichtverlängerung des erst 1887 geschlossenen russisch-deutschen Rückversicherungsvertrags gleich nach Bismarcks Entlassung. 9 Die
Heft
(2020) 109
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