Heft 
(2020) 109
Einzelbild herunterladen

Der Stechlin , ein politischer Zeitroman  Stolleis 119 Funktion in der Handlung erfüllen. Am schwächsten vertreten[] ist der bürgerliche Stand, vor allem die sogenannten Freiberuflichen: Ärzte, Pfarrer, Juristen, Lehrer und Handeltreibende. Sehr profiliert sind hin­gegen die»kleinen Leute«[]. 8 Ich möchte mich vielmehr, um endlich zur Sache zu kommen, Fontanes ­»Distanzen« oder»Nicht-Identifikationen« zuwenden. a) Zunächst die Distanz zum»politischen Berlin«. Fontane versieht vieles mit kritischen Streiflichtern. Aus verschiedenen Perspektiven wird der neue protzige Stil bemerkt,»seit wir Kaiser und Reich sind«, wie der Gardedrago­ner Czako sagt, und er fährt später fort, indem er sich auf den unangeneh­men Bourgeois Gundermann bezieht:»so sind die meisten. Phrase, Phrase, Phrase. Mitunter auch Geschäft oder noch Schlimmeres«(4. Kap.).»[] wir Deutsche sind wieder obenauf, ein bißchen zu sehr. Aber immer besser als zu wenig«, sagt der Lehrer Krippenstapel(5. Kap.). Am Hof herrscht Frömmlertum, auch wenn der reaktionäre und antise­mitische Hof- und Domprediger Adolf Stoecker nun(1890) vom Kaiser aus »Gründen« entlassen wurde. Aber Frömmigkeit fördert in Berlin die Karri­ere eines Beamten:»›fromm‹ is wiene untergelegte Hand«, sagt der alte Stechlin(5. Kap.). Auch die Spannungen zwischen Bismarck und Wilhelm II. kommen zur Sprache, etwa wenn Dubslav erwägt, Kiebitzeier nach Fried­richsruh zu schicken, es aber unterlässt, weil zu viele Sympathien für Bis­marck nun als schädlich gelten und angeblich die Polizei ein Auge darauf hat (39. Kap.). Das ist gewiss nicht ernst gemeint, aber doch ein Hinweis. Als besonders unangenehm erscheint das nationalistisch getönte Frömmlertum, wenn es sich mit dem aufsteigenden Antisemitismus verbin­det, also mit dem schändlichen Impuls von Heinrich von Treitschke und dem Treiben des Hofpredigers Stoecker. Fontane zeigt dies an Vater und Sohn Hirschfeld sowie an dem Arzt Dr. Moscheles. Als Superintendent Koseleger »einen philosemitischen Zug« bei Stechlin feststellt, reagiert dieser aggres­siv, ja einen solchen Zug habe er wirklich,»weil er Unchristlichkeiten nicht leiden kann und Prinzipienreitereien erst recht nicht«(37. Kap.). b) Die Distanz zum politischen Berlin wird konkreter in der Distanz zu Bis­marck selbst und zu seinen Nachfolgern Caprivi(1890–1894) und Hohenlo­he-Schillingsfürst(1894–1900), letzterer wird benannt als»der alte Fürst, der jetzt dran ist«(10. Kap.). Bismarck selbst ist zur Zeit des Romans schon fast als historische Figur entrückt. Seine politische Leistung der Reichs­gründung ist unbestritten, nicht nur beim märkischen Adel, sondern auch bei Fontane selbst. Der 80. Geburtstag Bismarcks am 1. April 1895 hatte al­les noch einmal in Erinnerung gerufen. Was nun aber negativ verhandelt wird, ist die Nichtverlängerung des erst 1887 geschlossenen russisch-deut­schen Rückversicherungsvertrags gleich nach Bismarcks Entlassung. 9 Die