Der Stechlin , ein politischer Zeitroman Stolleis 121 von Alten-Friesack, Baron Beetz, Herr von Molchow, Herr von Zühlen und andere – sie haben weder Weitsicht noch eine Idee, wie man die politische Initiative wieder gewinnen könne, allenfalls durch eine Koalition mit dem Zentrum(20. Kap.). d) Den Niedergang des Adels und des Glaubens empfindet die Domina Adelheid besonders scharf. Eher hart als frömmelnd registriert sie eine Verflachung des Glaubens im Kulturprotestantismus und in der wissenschaftlichen Historisierung des Christentums. Von Konventikeln und dem allerorts auftretenden Frömmlertum will sie aber auch nichts wissen. Umso mehr hängt Ermyntrud Katzler, die Prinzessin Ippe-Büchsenstein, dem Superintendenten Koseleger an(37. Kap.), der über eine pietistisch getönte Frömmigkeit in der altpreußischen Landeskirche Karriere machen will. An höchstem Orte, beim Kaiser und seiner besonders frommen Kaiserin Auguste, scheint dies die richtige Strategie zu sein. Für die Domina Adelheid und ihre fünf Damen im Kloster Wutz ist der Kritikpunkt klar: An die Stelle des festen(lutherischen) Glaubens an Gott sei nun der Glaube an das Individuum getreten(39. Kap.). Ohne dass die Domina es weiß, sieht es Pastor Lorenzen aus seiner christlich-sozialen Perspektive ganz ähnlich, wenn er sagt,»unsere ganze Gesellschaft[…] ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muss sie zugrunde gehen« (15. Kap.). Lorenzen hofft auf eine durch Liebe vereinte Gemeinschaft, während die Domina ihre alte Welt verteidigt. Die im Untergrund wühlenden Sozialdemokraten und die Liberalen scheinen ihr gleichermaßen verderblich(39. Kap.). Ihr Bruder Dubslav meint gar, Adelheids Glaubensbekenntnis laufe »im letzten« darauf hinaus:»Kleinadel über Hochadel, Junker über Graf« (26. Kap.). Aber das ist in den Augen von Stechlin-Fontane eben die reine Verblendung. Viel überzeugender ist, was im Gespräch zwischen dem Beamten Rex und dem Hausherrn Stechlin von Pastor Lorenzen zitiert wird; denn der habe sogar behauptet,»die aristokratische Welt habe abgewirtschaftet, und es komme die demokratische«(5. Kap.). Im Mai 1895 schreibt Fontane an Friedlaender:»Es ist ganz vorbei mit dem Alten, auf jedem Gebiet« 11 . Diese »Gebiete« waren die dominierende Stellung des Adels in der Politik, zugleich aber das orthodoxe Luthertum, von dem sich – trotz der preußischen Union von 1817 – sowohl die sozialdemokratisch gestimmte Arbeiterschaft als auch das gebildete Bürgertum und die freigeistige moderne Wissenschaft abwandten. e) Distanzierte Beobachtung findet auch der neue Stil des höheren Beamtentums. Nimmt man Herrn von Rex, Ministerialassessor aus dem Kultusministerium, dann ist er einer von denen, die durch betonte Frömmigkeit Karriere machen. Außerdem ist er hochmütig. Er ärgert sich insgeheim über die
Heft
(2020) 109
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