Der Stechlin , ein politischer Zeitroman Stolleis 123 g) Fontane sieht zwar das sich dem Adel assimilierende Bürgertum besonders skeptisch, aber er spürt auch an vielen Stellen, mit welcher Gewalt nun die Industrie die alten Lebenswelten umpflügt. Die Steigerung der Geschwindigkeiten, die schon der alte Goethe registrierte 13 , ist das Signum. »Seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter«(26. Kap.) kann noch als heiterer Spruch durchgehen, aber es ist viel mehr: Die moderne Chemie droht als»große Generalweltanbrennung«(6. Kap.). Dubslav spürt»diese merkwürdigen Verschiebungen in Zeit und Stunde«(3. Kap.). Wir könnten(»tipp, tipp, tipp«) mit dem Kaiser von China oder mit Java telegraphieren(3. und 5. Kap.). Ebenso kommuniziert der Stechliner See mit Erdbeben in Java oder anderswo. Das Unheil naht: Wir haben»Torpedoboote, Tunnel unter dem Meere, Luftballons. Ich denke mir, das Nächste, was wir erleben, sind Luftschifferschlachten«(15. Kap.). Diese Entwicklungen sind alle, wie Fontane sein alter ego sagen lässt,»politisch angekränkelt« (4. Kap.). Es ist also nicht nur die autonome Dynamik der Technik, sondern auch politische Kräfte, die solche Kriege vorantreiben. Auch der Fortschrittsoptimismus der Wissenschaft ist porös. Der Arzt Dr. Sponholz, ein Freimaurer, vertritt die Wissenschaft, aber die ist nicht zuverlässig, ja oft hilflos. Sein Stellvertreter, der junge Dr. Moscheles, weiß viel Neues, aber er wird vergrault, sogar vom kranken Dubslav selbst, weil er sowohl Jude als auch Sozialdemokrat ist. Am Ende kann nur die alte Hexe Buschen mit Kräutertee helfen(38. Kap.). h) Als letzter Distanzpunkt Fontanes müssen die Sozialdemokraten genannt werden. Sie sind ständig präsent, so der nur aus der Ferne und mit Respekt erwähnte August Bebel, der Wahlsieger Feilenhauer Torgelow, ein »Wanderprediger« im Land, aber ohne rechte Verbindung zum arbeitenden Volk, weiter der erwähnte Arzt Dr. Moscheles,»der nach Sozialdemokratie schmeckt«, der den»ewigen Torgelow« in sich hat(38. Kap.) und sich heimlich eine Revolution wünscht sowie der junge Isidor Hirschfeld,»der große Volksfreund«(36. Kap.). Die Sozialdemokratie ist also gegenwärtig, atmosphärisch als Angstprojektion in den Dialogen der herrschenden Kreise, bildlich als»schwarzes Ungetüm«(17. Kap.), schwarz wie das dänische Kriegsschiff»Rolf Krake« im Alsensund. 14 1893, 1894 und 1896 hob das Preußische Oberverwaltungsgericht polizeiliche Verbote der Aufführungen von Hauptmanns Die Weber in Berlin, Breslau und Hannover auf. Das Stück wurde gespielt, obwohl der Berliner Polizeipräsident geltend gemacht hatte, das Drama könne»einen Anziehungspunkt für den zur Demonstration geneigten sozialdemokratischen Teil der Bevölkerung bieten«. Der Kaiser telegrafierte an den Gerichtspräsidenten,»das Stück hätte nie aufgeführt werden dürfen; es ist dadurch, fürchte ich, viel Unheil gesät worden«. 15 Das ist die Stimmung. Fast hysterisch ist die Aversion der Domina Adelheid; sie
Heft
(2020) 109
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