Heft 
(2020) 109
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Dania Hückmann: Rache im Realismus  Böttcher 147 ­Rache einerseits, etwa in Form des Prinzips der Vergeltung, in das Gerichts­wesen überführt, andererseits durch die Rechtsordnung suspendiert wird. Der Befund ist überdies interessant, da jüngst an anderer Stelle eine deutliche Zunahme von Rächerfiguren und Rachesujets in der Literatur be­reits seit der ›Sattelzeit‹ des ausgehenden 18. Jahrhunderts konstatiert und diese Entwicklung erhellend u. a. auf die europaweiten Strafrechtsreformen der Zeit zurückgeführt wurde. 2 Angesichts der massiven rechtshistorischen, mentalitäts-, poetik- und gattungsgeschichtlichen Veränderungen, die sich zwischen dem Auftritt des Rächers bei Schiller ›um 1800‹ und der Themati­sierung von Rache bei Fontane Ende des 19. Jahrhunderts ereigneten, wären entsprechende Herleitungen und Kontextualisierungen von ›Rache im Rea­lismus‹ wertvoll, vielleicht sogar notwendig gewesen. Wenngleich die Arbeit beansprucht zu zeigen,»wie realistische Texte den(historischen) Wandel rechtlicher und sozialer Konventionen anhand des Phänomens Rache ver­handeln«(S. 18), und sie das Festhalten an der mit Rache verbundenen höhe­ren Gerechtigkeitsidee außerdem»als Reaktion auf das mit der Industriali­sierung einhergehende Geflecht von Veränderungen« liest(S. 19; vgl. auch S.  26f.), werden rechtshistorische und kulturgeschichtliche Hintergründe häufig nur angerissen, nicht aber umfassend dargestellt. Gleiches gilt für jene groben Entwicklungslinien einer ›Literaturgeschichte der Rache‹, zu der die vorliegende Studie mit dem Fokus auf der Erzählliteratur des Realis­mus fraglos einen wertvollen Beitrag liefert. Dass sie sich dabei ein wenig darum drückt, die Diskussion um die epochengeschichtliche Einordnung ihrer frühen Untersuchungsgegenstände(Droste-Hülshoff, Gotthelf) aufzu­greifen und die Beschränkung auf die Erzählliteratur zudem nicht in dem Maße begründet wird, wie es die seit Anfang des Jahrhunderts fortdauern­de Präsenz der Rache auf der Bühne erforderlich machte, sei allerdings an­gemerkt. Die Arbeit präsentiert sich im Wesentlichen als Einzelanalyse von sechs Prosa-Texten, wobei jeweils zwei davon auf einen gemeinsamen Deutungs­horizont hin perspektiviert werden: Annette von Droste-Hülshoffs Die Ju­denbuche und Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne stellten Rache als Form ›übersinnlicher Vergeltung‹ aus; in Theodor Fontanes Grete Minde und Paul Heyses Andrea Delfin wiederum mache die Rache der Protagonis­ten die gewalttätigen Verhältnisse des Alltags einerseits sichtbar, anderer­seits werde Rache als Weg zur Gerechtigkeit durch die Gewaltexzesse der pathologisch gezeichneten Subjekte diskreditiert. Fontanes Cécile und Effi Briest widmeten sich mit dem Duell dagegen einer»Zwitterfigur zwischen Rache und Recht«(S. 145), das als ein von der Gesellschaft anerkanntes ­Rit­ual Rache nur vorgeblich kanalisiere, während es diese eigentlich erst erzeuge. Die Leitthese verfolgend, dass Rache im Realismus erzählerisch ­ein­gegrenzt werde, begegnet die Untersuchung ihren Analyseobjekten vorwiegend narratologisch, flankiert vor allem von kulturwissenschaft­