Heft 
(2020) 110
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40 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Die beiden Schreiben an Wolfsohn und Witte waren der Forschung seit 1910, dem Erscheinungsdatum der Zweiten Sammlung von Fontanes Briefen bekannt. Ein weiteres Zeugnis mit gleicher Tendenz, einen Brief Fontanes vom 7. Januar 1851 an Bernhard von Lepel, hat Charlotte Jolles in ihrer 1936 abgeschlossenen Dissertation in die Debatte eingeführt. 3 Danach will der Dichter am Sylvestermorgen überrascht erfahren haben, daß das Cabinet aufgelöst und der Literat Th. Fontane an die Luft ge­setzt sei. Eilig strich ich noch 40 Rthr. Diäten für Monat Dezember ein und verschwand für immer aus den heiligen Hallen, in denen ich 5 mal 4 Wochen Zeuge der Saucen-Bereitung gewesen war, mit welchen das lit. Cabinet das ausgekochte Rindfleisch Manteuffelscher Politik zu über­gießen hatte. Gott sei Dank kann ich mir nachträglich das Zeugnis aus­stellen, daß von meiner Seite kein Salz-, Senf- oder Pfefferkorn jemals zu der Schandbrühe beigesteuert worden ist. 4 Weder Jolles noch Julius Petersen, in dessen 1940 vorgelegter Edition des Freundschaftsbriefwechsels zwischen Fontane und Lepel dieses Schreiben erstmals vollständig abgedruckt wurde, haben jedoch eine Aussage des Dichters berücksichtigt, die Zweifel an der brieflich verbreiteten Version hätte wecken müssen, nämlich das zuerst 1919 und dann 1939 neu publizier­te»Wangenheimkapitel«. 5 Um 1897 entstanden, scheint dieses Memoiren­fragment bei der Endredaktion von Von Zwanzig bis Dreißig ausgeschieden und für eine spätere, dann nicht mehr zustandegekommene Fortsetzung der Autobiographie reserviert worden zu sein. Danach war die Auflösung des Literarischen Kabinetts mitsamt Fontanes Entlassung keineswegs aus blauem Himmel erfolgt, sondern hing mit dem Sturze des Radowitzschen Ministeriums zusammen, an dessen Stelle nun das Ministerium Manteuffel trat. Meine Rolle dabei, etwa die eines Boten im Drama oder Stück, hatte etwas Tragikomisches. Das ›li­terarische Kabinett‹, im wesentlichen ein ministerielles Lesebureau, be­stand aus sechs oder acht Herren, an deren Spitze ein geschulter Beam­ter stand, damals Wilhelm von Merckel[...], ein Alt-Liberaler und Anhänger der Radowitzischen Politik. Die übrigen Mitglieder, meine Kollegen, waren fast ausschließlich Ostpreußen, was wohl damit zu­sammenhing, daß Auerswald die Hauptrolle im Ministerium spielte.[...] Gleich als ich eintrat, sah ich, daß eine Gärung da war, die damit zusam­menhing, daß Auerswald-Radowitz gestürzt und Manteuffel Minister­präsident werden sollte. Das ›literarische Kabinett‹ hielt es für seine Pflicht, dagegen Front zu machen, zu streiken und ein Schriftstück auf­zusetzen, in dem unserm obersten Vorgesetzten an dessen Statt damals Ministerialdirektor von Puttkamer, Vater des späteren Ministers, fun­gierte mitgeteilt wurde, daß das alles nicht ginge, daß wir auerswal­disch gesinnt wären und nicht Lust hätten, unter Manteuffel zu dienen. Das Ostpreußentum faßte mich, ich wurde gefragt, ob ich Lust hätte, das