Heft 
(2020) 110
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Fontanes Fronde gegen Manteuffel  Muhs 55 Tatsächlich wurden Cassel daraufhin statt seines bisherigen Gehalts von 400 Talern für die Dauer von zwei Jahren je 300 Taler ohne jede Verpflich­tung bewilligt. Voller Überschwang bedankte er sich bei Manteuffel,»daß Sie mir die lang ersehnte Freiheit von dem Zeitungsjoche, dem ›Sklaven­hause Ägyptens‹ wiedergaben«; eine Stimmung, die Fontane ohne weiteres hätte nachvollziehen können, mußte er sich doch gleichzeitig in London mit der Deutsch- Englischen Correspondenz herumquälen. Die Parallellität geht aber noch weiter. 1858 wurde Cassel zum beamteten Sekretär der Akademie der Wissenschaften in Erfurt ernannt. Er hatte es also geschafft; doch ähn­lich wie 1876 dem Berliner Akademiesekretär Fontane wurde auch ihm die­ses Amt schon bald zur Last. Nach weniger als einem Jahr setzte Cassel die mühsam gewonnene Si­cherheit aufs Spiel, um sich als freier Schriftsteller und Vortragsredner in Berlin niederzulassen. Dort empfahlen ihn seine Verdienste um den Loya­lismus der jüdischen Gemeinde im Jahre 1848 um so mehr für eine Karriere in der konservativen Partei, als er inzwischen konvertiert war. In diesem Zusammenhang ergab sich 1862 mindestens ein Zusammentreffen mit Fon­tane im Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg. 34 Da Cassel jedoch mit mehr Eifer und Ehrgeiz bei der Sache war als der Dichter, der sich ledig­lich einmal für eine Wahlmannskandidatur hergab, brachte es der wendige Publizist als Abgeordneter für den Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow (Fontanes»Spreeland«) tatsächlich bis in den preußischen Landtag. 1866 dort angekommen, dämmerte ihm freilich, dass er in der Politik ebenfalls fehl am Platze war. Schon ein Jahr später verzichtete Cassel auf sein Mandat und ließ sich er hatte zwischenzeitlich noch ein Diplom in protestantischer Theologie er­worben zum Prediger an der Berliner Christuskirche bestellen, einer frei­kirchlichen Gemeinde, für die er bis kurz vor seinem Tode 1892 tätig bleiben sollte. Fontane kam auf seinen Spaziergängen im Tiergarten regelmäßig dort vorbei 35 , hat auch einiges von den weit über hundert selbständigen und in alle möglichen Felder einschlagenden Schriften des emsigen Autors ge­kannt so amüsierte er sich 1891 köstlich über Fritz Mauthners Verriss von Paulus Cassel als Dichter 36 , hatte aber weiter keinen Kontakt mit ihm. Dass hier Ressentiments im Spiele waren, steht außer Frage, wie überhaupt der Proselyt und eifrige Judenmissionar Cassel zunehmend zur Zielscheibe hef­tiger Angriffe wurde 37 , als er nach 1880 gegen den kulturellen und kirchli­chen Antisemitismus Position bezog 38 . Gleichwohl läßt sich die Antipathie des Dichters nicht auf den jüdischen Aspekt reduzieren. Seine wohlbekann­te Allergie gegen ostentative Religiosität jedweder Konfession sowie gegen literarisches Dilettantentum dürften ebenfalls dazu beigetragen haben, dass Fontane eine geringe Meinung von Cassel unterhielt, vor allem aber seine bedenkenlose Indienstnahme von Kunst wie Kirche für politische Zwecke.