Heft 
(2020) 110
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56 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Auf der gleichen Linie liegt auch der flüchtige(und namenlose) Auftritt des mittlerweile toten Cassel in Effi Briest(1895). Nach ihrer Scheidung in Ber­lin wohnhaft, klagt die gesellschaftlich isolierte Titelheldin ihrem Dienst­mädchen, sie könne doch»nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der Christuskirche hinübersehen«. Roswithas Anspielungen auf die wohltuende Wirkung des Gottesdienstbesuches entlocken ihr zwar das Eingeständnis, schon öfter dort gewesen zu sein:»Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das Hundertste davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.« 39 Die stereotype Zeichnung von Körpermerkmalen und Verhaltensmustern hätte zwar genügt, den Prediger der Christuskirche als geborenen Juden kenntlich zu machen, doch folgt für alle Fälle noch der Zusatz:»Er spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht.« Der eigentliche Grund für Effis ­mangelnde Ergriffenheit war jedoch weniger die Haartracht des Predigers oder seine Abstammung:»Überhaupt all das Zuhören; es ist nicht das Rech­te. Sieh, ich müßte so viel zu tun haben, daß ich nicht ein noch aus wüßte. Das wäre was für mich. Da gibt es so Vereine, wo junge Mädchen die Wirt­schaft lernen, oder Nähschulen oder Kindergärtnerinnen.« 40 Wichtiger als die Tatsache, dass Fontane seine Effi die Sprache des alltäglichen Antisemi­tismus im Munde führen läßt, ist an dieser Szene zweifellos die Botschaft, dass, was die Religion an Tröstungen zu bieten hat, der leidenden Frau letzt­lich nicht helfen kann. Vom Literarischen Cabinet zur Centralstelle für Preßangelegenheiten Doch zurück zu den Turbulenzen von 1850/51: Die Deutsche Reform auf den Kurs von Olmütz einzuschwören, war keineswegs die schwerste Aufgabe, vor die sich Cassel gestellt sah, der bis dahin ebenfalls als Anhänger von Radowitz und der Unionspolitik hervorgetreten war. Das Hauptproblem des Blattes bestand vielmehr darin, dass es, weithin als Sprachrohr der Regie­rung beargwöhnt, nie genug Leser gefunden hatte und enorme Zuschüsse verschlang, ohne nennenswerten Einfluß auf die öffentliche Meinung zu ge­winnen. Von einer Heranziehung der weisungsgebundenen Kräfte des Lite­rarischen Kabinetts zur Mitarbeit in der Redaktion durfte man sich zumin­dest zweierlei versprechen: politische Linientreue und eine Ersparnis für den Staatshaushalt. Ob auch bessere Einwirkung auf das Publikum blieb abzuwarten. Die betroffenen Literaten scheint übrigens an den durchgesi­ckerten Plänen weniger die drohende Gleichschaltung bekümmert zu haben