REZENSIONEN
Cowen, Roy C.: Der Poetische Realismus. Kommentar zu einer Epoche. — München: Winkler 1985. 419 S.
(Rez.: Peter Görlich, Potsdam)
Der Anspruch des Verf., mit dem literaturhistorischen Terminus „Poetischer Realismus" sich der „Totalität des 19. Jahrhunderts zu stellen" (S. 9), ist groß und wird — das Resümee sei hier vorweggenommen — am Ende doch nur partiell eingelöst. Da sich Cowen dieser Problematik bewußt ist, benennt er selbst Grenzen und Desiderata seiner Untersuchung (S. 30 f.) und unterstreicht die Konzentration auf eine Präzisierung realistischer Literaturentwicklung in Deutschland nach 1848. Daß dies in produktiver Weise nur möglich ist unter Einbeziehung bestimmter komparatistischer Fragestellungen, wird nicht nur hervorgehoben, sondern mehrfach im 1. Teil des Bandes, der einen Versuch darstellt, den Poetischen Realismus als ästhetischen und historischen Begriff zu erläutern, exemplifiziert. Die mitunter sehr anregenden Bemerkungen zu spezifisch nationalliterarischen Entwicklungen des Realismus in Skandinavien, England und Frankreich im Vergleich zur Ausprägung realistischer Literatur in Deutschland zeigen in den Werkanalysen des 2. Teiles dann aber zu wenig Konsequenzen. Sicherlich bedarf es bei der Darstellung multinationaler literarischer Korrespondenzen und Wirkungen eigenständiger Untersuchungen, die bislang für die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht in ausreichendem Maße vorliegen, jedoch hätte der Verf. in den einzelnen Werkanalysen auf ästhetische Einflüsse und Berührungspunkte, z. B. zwischen H. Bang, B. Björnson, A. Strindberg und Fontane, näher eingehen können.
Das Verhältnis der einzelnen Werkkommentare, die für sich interessante Interpretationen epischer Texte des 19. Jahrhunderts bieten, zum einleitenden 1. Teil stellt sich uns als das gravierende methodologische Problem der Untersuchung Cowens dar. Ein großer Teil der realistischen Literatur in diesem Jahrhundert wird unter einen Begriff subsummiert, der eigentlich nur ganz spezifische und konkrete Konzeptionen einer eingegrenzten Gruppe von Autoren widerspiegelt. Der Verf. problematisiert teilweise seine Methode und ist sich in verschiedenen Werkkommentaren (z. B. S. 345) der Grenzen des Begriffes „Poetischer Realismus" wenigstens teilweise bewußt. Ursachen dafür sind vor allem weitgehende terminologische Unentschiedenheiten und Unstimmigkeiten Cowens bei der konkreten Eingrenzung des Begriffs „Poetischer Realismus". In seiner Vorbemerkung zur Bestimmung und Abgrenzung dieses Begriffs versucht Cowen, von Epochen und Bewegungen des 19. Jahrhunderts ausgehend, verschiedene Periodisierungsbegriffe zu diskutieren. Der Verf. konstatiert zwar eine in der Literaturgeschichte deutliche Neigung, das „19. Jahrhundert unter nichtliterarischen Gesichtspunkten einzuteilen" (S. 13), bleibt aber bei der eigenen literaturdominanten Epochencharakterisierung mit dem „Poetischen Realismus“ — abgesetzt von einem „Realismus schlechthin" (?) — auch auf halbem Wege stehen. Es erfolgt eine zu unpräzise Abgrenzung zwischen „Poetischem Realismus", bürgerlichem und programmatischem Realismus. Im ästhetischen Bereich wird der „Poetische Realismus" zu sehr auf einige wenige Merkmale, die nicht einmal die im Kommentarteil interpretierten Autoren vereinen, reduziert. Was sich in der Periodisierungsdiskussion andeutet und in der Verwendung des Moderne-Begriffs ebenfalls sichtbar wird, ist eine von Cowen praktizierte Nivellierung deutlicher Differenzierungserscheinungen in der bürger-
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