Heft 
(2020) 110
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Abednego, der Pfandleiher Brechenmacher 93 Schriftstellerin bereits in seinen eigenen literarischen Anfängen angezo­gen. Gore war eine beachtlich produktive Meisterin ihres Genres. 23 Fontane wusste 1862, wovon er sprach, denn zumindest einen ihrer Romane hatte er auf denkbar intensivste Weise studiert. Neben seiner anzunehmenden Sym­pathie für die schriftstellerische Disposition Gores dürfte aber auch ein in­haltliches Interesse Fontane bewogen haben, sich an dem Money-lender als Übersetzer zu versuchen. Mehr als die»sensationsromantischen Züge der Handlung«, so vermutete Nürnberger, haben ihn wohl schon vor oder spä­testens um den Zeitpunkt seiner ersten Englandreise herum»die Schilde­rungen gesellschaftlicher Verhältnisse und die Ansätze zu einer Kritik der Gesellschaft« angezogen,»die der Roman enthielt.« 24 Auch in Fontanes etwas früher als die Gore-Arbeit entstandenen Über­setzungen von Gedichten des Arbeiterpoeten John Prince(1842), eines»Sän­gers des Sozialismus« 25 , spielen die sozialen Gegensätze innerhalb der eng­lischen Gesellschaft und mit ihnen die Kritik am Verhalten der upper class eine entscheidende Rolle. 26 Geht es in den Liedern Princes um die Befreiung der Proletarier aus Sklaverei und Tyrannei, um Elend, Hungersnot und Trunksucht der Ausgebeuteten, ist der Roman The Money-lender, wie alle fashionable novels, in der sozialen Welt des ›vornehmen‹ Lebens der Adels­familien angesiedelt. Er gibt aber keineswegs eine lediglich triviale Projek­tionsfläche für die Mittelschicht-Leserschaft, sondern zeigt eine Adelswelt, hinter deren präpotentem Stolz und materiellem Überfluss nichts als der Ruin lauert. Plausibel ist damit die Annahme, dass Fontane am Money-len­der das gesellschaftskritische Gesamt-Setting anzog. Zu diesem Setting ge­hört die»jüdische Frage«, also die seit dem späten 18. Jahrhundert in vielen europäischen Ländern geführte Debatte über die politische, soziale und rechtliche Stellung der jüdischen Minderheiten. 27 Fontane übersetzte den Roman sicher nicht, um zu dieser Debatte bereits selbst engagiert Stellung zu nehmen. Doch die Übersetzungsarbeit führte ihn zwangsläufig dazu, sich mit ihr intensiver auseinanderzusetzen. Überhaupt lässt sich in dieser Über­setzung zum ersten Mal für Fontanes soziale wie literarische Sozialisation eine eingehende Befassung mit zeitgenössischen Problemen jüdischer Exis­tenz nachvollziehen. Dem jungen Mann mit noch geringer Weltläufigkeit (seine prägenden England-Erfahrungen standen ja erst noch bevor) und al­lenfalls randständigen Kenntnissen über Juden und Judentum(die Freund­schaft mit dem jüdischen Dichter Wilhelm Wolfsohn befand sich noch in ihrem Anfangsstadium) wird durch den Gore-Roman eine sehr dezidierte Perspektive auf die ›jüdische Frage‹ vermittelt, und vielleicht ist die Hypo­these nicht überzogen, dass diese Perspektive Fontanes eigene Positionie­rung gegenüber Juden als einer sozialen Gruppe(Religion spielt dabei keine ernsthafte Rolle) zumindest mitbeeinflusste, und seine Befassung mit Gore wie ein Eingangstor zu eigenen Erkundungen ›jüdischer Welt‹ wirkte.