Heft 
(2020) 110
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98 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte (worin Hannah Arendt die Abneigung der»Ausnahmejuden der Bildung« gegen ihre materiell so viel erfolgreicheren Brüder erkannte). 37 Der einer Rabbinerfamilie entstammende Karl Marx war es schließlich, der 1844, just ein Jahr nach dem Erscheinen des Money-lender, das Ressen­timent vom Kopf auf die Füße stellte und aus dem ›kapitalistischen Juden‹ den ›jüdischen Kapitalismus‹ machte: in jedem Kapitalisten realisierte sich für ihn das»praktische, reale Judentum«:»Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbst­emanzipation unsrer Zeit.« 38 Auf der anderen Seite dieses Spektrums bas­telte sich ein aufstrebender englischer Politiker und Romancier wie Heine, Börne und Marx mit jüdischem Herkunfts-Hintergrund eine Idealfigur, in der einerseits Rothschildsche Züge, andererseits Präfigurationen des eige­nen angestrebten Lebenswegs mit einer Edel-Rassen-Privattheorie ver­knüpft werden. Benjamin Disraelis vollendeter, fast allwissender und welt­weit vernetzter Bankier de Sidonia in den Romanen Coningsby or The New Generation(1844) und Tancred or The New Crusade(1847) ist kein unappe­titlicher, körperlich durch Bauch und hängende Gesichtszüge vorstigmati­sierter Kapitalist, sondern eine kosmopolitische Lichtgestalt und Leitfigur einer neuen Generation(new generation), jedenfalls aber ein Ausnahme­jude sowohl»des Reichtums« als auch»der Bildung«, und noch viel mehr: In Sidonias Theorie von den Juden als der einzigen ›unvermischten Rasse‹ als Wurzel aller europäischen Kultur einschließlich des Christentums, kulmi­niert literarisch Disraelis Bestreben, einen ›neuen‹, durch ›Blut‹, Herkunft und Geschichte legitimierten Adel zu propagieren 39 und dadurch freilich vor allem sich selbst den Weg zu bahnen, dem gesellschaftlichen Pariatum zu entkommen, ohne Parvenü zu werden, 40 und politisch als Wortführer ei­nes erneuerten Toryismus Karriere zu machen. 41 Von solchen zweckhaften Überhöhungen kann bei Gore, die ›nur‹ Schriftstellerin ist, keine Rede sein. Ihre Judendarstellung kennt keinen as­tralen Helden vom Schlage Sidonias. Abednego droht am Ressentiment und an der Bösartigkeit der Gesellschaft zu zerbrechen. Er führt sich nicht wie Sidonia auf eine uralte, ›unvermischte‹ Adelsrasse zurück, aber seine inne­re Vornehmheit, die durch die Erfahrungen seines Lebens phasenweise verschüttet wird, jedoch nicht dauerhaft auszulöschen ist, bleibt unver­kennbar. Sein noch abschließend vorgebrachtes ceterum censeo, zwar Geldverleiher, nie aber Wucherer gewesen zu sein, weist in diese Rich­tung. 42 Während Sidonia in der guten Adelsgesellschaft angesehen und be­liebt, ja verehrt ist, leidet Abednego unter der vollen Wucht der Ausgren­zungserfahrung.