100 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Abednegos wie auch seiner Schwester erzählt Gore von der offenbaren Vergeblichkeit dieser Hoffnung und reißt damit ein zentrales Thema jüdischer Diaspora-Existenz an. Abednego bleibt, all seinen Fähigkeiten und all seinen Bemühungen um Anerkennung zum Trotz ›der Jude‹, und das hängt keineswegs mit seiner Tätigkeit als Pfandleiher zusammen – die er erst viel später, als Reaktion auf die Abstoßung durch die Mehrheitsgesellschaft, ergreift –, sondern mit seinem Aussehen 46 und – mit seinem Namen. »In meinem Namen, Basil, ruht das Geheimnis meiner Bestimmung, er ist der Schlüssel, ohne den es nicht erschlossen werden kann,« fuhr der Pfandleiher nach einer Pause fort –»denn er ist der Name eines – Juden. Mag ich leben nach allen Geboten der Lehre Christi, mag ich Gott fürchten, und meinen Nächsten lieben wie mich selbst, mag ich wie Paulus als Märtyrer sterben, am Kreuz oder auf dem Scheiterhaufen – es frommt zu nichts, man verschreit mich als einen Juden, weil ich einen jüdischen Namen führe. Mein Vatername riecht nach der Synagoge! – Ich bin ein Jude, – ich muss ein Jude sein, – die Welt hält mich für einen solchen, und wer möchte deren Ansicht bekämpfen, der Welt – den Mund stopfen?« 47 Abednegos Verhängnis liegt demnach darin, dass er zwar seinen Glauben, nicht aber seinen Namen und noch weniger sein Aussehen wechseln kann; durch beides bleibt er dauerhaft stigmatisiert, und dies erstickt alles Edle in ihm. Fast scheint in Gores Roman eine der wesentlichen Hypothesen des Reformtheoretikers Christian Wilhelm Dohm über die»bürgerliche Verbesserung« der Juden eingedrungen zu sein: die schlechten Eigenschaften der jüdischen Minderheit seien das Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Mehrheitsgesellschaft. 48 In den Worten Abednegos:»Der Mensch ist mehr das, wozu er durch die Menschen gemacht wird, als das, wozu ihn die Natur bestimmte.[...] Doch vor allem wird der Mensch grausam und ungerecht, wenn er von seinen Mitmenschen mit Grausamkeit und Ungerechtigkeit verfolgt wird.« 49 Der Dohm-Anklang wird beim späteren Gesellschaftsdiagnostiker Fontane weniger zu finden sein – er war kein pädagogisierender Sozialreformer –, umso mehr jedoch das ›Spiel mit Namen‹ 50 und oft auch mit Aussehen; 51 beides nutzte er, nicht nur für Figuren mit ›jüdischem Hintergrund‹, dort aber besonders gerne, zur Konstruktion vielschichtiger, uneindeutiger, auf den ersten Blick ›klar‹, auf den zweiten und alle weiteren Blicke hin kompliziert und rätselhaft erscheinender Charaktere. 52 Gores auf seine Weise rätselhafter Abednego,»dessen ganzes Leben ein Geheimnis war,[...] der in seiner einen Person ein halbes Dutzend Existenzen durchlebte, und selbst im bürgerlichen Leben verschiednen Berufen, die streng getrennt waren, gleichzeitig oblag«, 53 wirkt wie ein grober Prototyp späterer Fontanescher Protagonisten: eine multiple, vielschichtige, keineswegs eindeutig zu greifende Figur, in der Schwebe zwischen der Suche nach eigener Verortung
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(2020) 110
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