Heft 
(2020) 110
Einzelbild herunterladen

102 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte die gewöhnlichen Rücksichten schwanden, selten auszubleiben pflegte. Hier aber gings her wie im Oberhause, wo schon der Anblick der ge­polsterten Sitze für die Bischöfe und Großen des Landes, jede Ausgelas­senheit im Zaum zu halten weiss.[...] Beim Dessert[...] besprachen der Wirt und seine Gäste die wichtigs­ten Staatsangelegenheiten in einer Weise, als bilde ihre kleine Gesell­schaft einen Privat-Conseil der höchsten Finanzbeamten aller Länder. Sie sprachen über die europäische Politik wie sehr gewandte Schach­spieler über eine Schachpartie, und lenkten die verschiedenen Fürsten, wie Elfenbein, Ebenholz oder Buxbaum Figuren auf dem Schachbrett. [...] Das Geld führte den erhabneren Namen ›Kapital‹, und ward in einer Weise behandelt, wies Basil vordem nie gehört hatte. Es war hier ›Zweck‹ und nicht ›Mittel‹. Millionen standen auf dem Spiel, und wurden wie Pennys oder Pfunde bei anderen Wetten besprochen. Die Beweg­gründe ihrer Handlungsweise, die Beweise, dass sie so und nicht anders spekulieren durften, würden dreimals ausgereicht haben einen Natio­nal-Ökonomisten in die Enge zu treiben. 57 Der dritte Entwicklungsschritt Abednegos ist derjenige zum Wohltäter, ausgelöst durch Abednegos Begegnung mit Basil und der damit verbunde­nen Konfrontation mit der Geschichte seiner Jugendliebe und der eigenen Familie. Diese führt zu späten Aussöhnungen und der Einsicht, dass Geld auch Gutes tun kann. In Gores Roman steht symbolisch dafür der letzte Wandel Abednegos, den Fontane seinerseits aber im Hörensagen aufgehen lässt. Gore und ihr folgend der Übersetzer Fontane identifizieren ›Geld‹ nicht mit Judentum. Ja, es gibt sogar eine Geld-Sphäre, die einzige Sphäre, in der Abednego allein aufgrund seiner Kompetenz absolut anerkannt ist, in der Judentum keinerlei Rolle spielt: das Umfeld der globalen Bankiers. Mit Si­cherheit gehören neben A.O. weitere Juden diesem erlauchten Kreis an, viel­leicht sogar der berühmte Rothschild selbst, doch wird diese Gruppe von Gore gerade nicht als ›jüdisch‹ konnotiert. Die Schlechtigkeit des Geldes ist woanders angesiedelt, sie findet ihren Ausdruck wie gleich der Anfang des Textes, von Fontane fast etwas marxistisch zugespitzt, konstatiert dem Mo­dus gemäß, in dem sich eine Gesellschaft bewegt.»Dem Standpunkt der Ge­sellschaft entsprechen ihre Laster: mit jenem verändern sich auch diese.« 58 Das»Privat-Conseil« der Kapitalisten ist keine Versammlung der ›Weisen von Zion‹, keine Brutstätte der Weltverschwörung, sondern ein Treffen von zwar sehr mächtigen, jedoch nicht per definitionem ›jüdischen‹ Finanzratio­nalisten. In der Wahrnehmung der maßlos überschuldeten Adeligen ist trotzdem ›der Jude‹ schuld an ihrem Unglück, während sie in Wirklichkeit selbst verantwortlich sind für ihre Misere. Dazu passt die Pointe, dass ›der Jude‹ Abednego selbst gar kein Jude mehr ist, jedoch in dieser Wahrneh­mung stets ›der Jude‹ bleibt. Hier schieben sich vielschichtige Deutungs-