Nomen est omen Sill 123 erhält auch Fontanes Oceane-Entwurf eine religiöse Sinndimension durch den Verweis auf Jesus Christus als den von Gott zur Erlösung aller Menschen gesandten Messias. Vor einem alten»katholischen Crucifix« stehend, »Christus am Kreuz mit Maria und Magdalena« 53 , sieht sich Oceane gefangen in einem inneren»Zwiespalt«. Von der demonstrativen Darstellung der Leiden Christi gleichermaßen abgestoßen wie herausgefordert, glaubt sie »sich zu erkennen«:»Ich glaube, ich that es. Und nun seh ich die trennende Kluft. Eine Sehnsucht ist da, die Kluft zu überbrücken; ich kann es nicht; ich habe keine Thräne, kein Gebet, keine Liebe. Ich habe nur die Sehnsucht nach dem allem.« 54 So rätselhaft die Figur Oceane von Parceval auch ist, dies dürfte eine Schlüsselstelle des Fragments sein. Denn das, was Oceane über sich selbst zu erkennen glaubt, knüpft unmittelbar an an die eingangs vom Erzähler vorgenommene Charakterisierung der»modernen Melusine«. Weil sie»keine Trauer« kenne und»der Schmerz[...] ihr fremd« sei, bleibe ihr, so der Erzähler, nur»die Sehnsucht nach einer tieferen HerzensTheilnahme mit[..] den Schicksalen der Menschen«. 55 Oceane aber weiß: sie hat»keine Thräne«. Darüber hinaus sieht sie sich in unüberbrückbarer Distanz zur Gemeinschaft der Gläubigen, die mit der Menschwerdung Gottes und der mit Christus verbundenen Hoffnung auf Erlösung eine Antwort gefunden haben auf die konstitutiven Ungewissheiten menschlichen Daseins: auf die Frage nach dem Woher und dem Wohin. Davon aber weiß sich Oceane ausgeschlossen: sie hat»kein Gebet«. Was ihr im Zustand der Unerlöstheit bleibt, ist nur die»Sehnsucht nach dem allem.« 56 Oceanes Gefühlsstarre oder-kälte, die kein Mitgefühl, kein Mitleid, keine»Herzens-Teilnahme« kennt, und ihre Sehnsucht nach Erlösung, nach Überwindung der unüberbrückbar erscheinenden Kluft: wenn dies Leitmotive der entworfenen Oceane-Figur sind, dann lassen sich durchaus Bezüge zu Wolframs Versepos ausmachen. Genauer formuliert: Es ist die Parzival-Figur in ihrem Verhältnis zum Gralskönig Anfortas, in der das Mitleidsmotiv, das Leiden und die Hoffnung auf Erlösung von zentraler Bedeutung sind. Wolfram von Eschenbachs Parzival schildert den langen Lebensweg des Protagonisten bis zur letztendlichen Berufung zum Gralkönig, mit der er die Nachfolge des Anfortas antritt. Gleichsam auf dem Höhepunkt ritterlicher Bewährung und Bewunderung gelangt Parzival zum ersten Mal auf die Gralburg Munsalvaesche und begegnet Anfortas. Dieser leidet an unerträglichen Schmerzen, seit er gegen das Keuschheitsgebot aller Gralkönige verstieß und ihn daraufhin ein vergifteter Speer entmannte. Die Wunde, heißt es, werde erst dann verheilen, Anfortas erst dann von seinem unerträglichen Leiden erlöst werden, wenn ein Ritter komme und ihn nach der Ursache seiner Qualen fragen werde. Parzival aber unterlässt es, die Mitleidsfrage zu stellen. Erst bei seiner zweiten Ankunft auf Munsalvaesche,
Heft
(2020) 110
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