124 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nachdem er den Irrweg ritterlicher hochvart verlassen und diemuot gezeigt hat, stellt Parzival jene Frage, mit der er sein Mitgefühl bekundet und Anfortas erlöst:»oeheim, waz wirret dir?« 57 (»Oheim, was quält dich?«) Parzivals Lebensweg liegt, so Joachim Bumke,»die christliche Frage nach dem Weg des Menschen in der Welt« 58 zugrunde. Dabei verläuft Parzivals Entwicklung in drei Stufen: von der Unwissenheit, die von Gott nichts weiß, über die Verabsolutierung des eigenen Selbst(Hochmut) hin zur Einsicht in die Größe und Allmacht des liebenden Gottes(Demut). Wie rudimentär, wie perspektivisch gebrochen auch immer: Fontanes OceaneFigur durchläuft ebenfalls eine dreistufige Entwicklung. Im 2. Kapitel weiß der Freund zu berichten, Oceane sei der Ansicht, in einer»Welt der Nicht=Empfindung« zu leben, in der»man glücklich sein könne ohne zu fühlen« 59 . Insofern, so die Schlussfolgerung des berichtenden Freundes, könne bei Oceane nicht einmal von der»Sehnsucht nach einem ihr verschlossenen Glück« gesprochen werden:»Sie will dies Glück gar nicht« 60 . Oceane bestreitet die Notwendigkeit von Gefühlen, weil sie sie nicht kennt. Nicht eigentlich wissend, wovon sie spricht, behauptet sie, glücklich zu sein. Ihr Hochmut weicht erst nach der Kruzifix-Szene, die ihr»die große Lehre vom Blut des Erlösers« drastisch vor Augen führt. Sich selbst erkennend, weiß sie nun, was ihr fehlt:»[...] ich habe keine Thräne, kein Gebet, keine Liebe. Ich habe nur die Sehnsucht nach dem allem.« 61 Zuletzt erlebt sie die Welt der Gefühle, tritt ein in die Welt der Empfindung, nachdem ihr Felgentreu eine»leidenschaftliche Liebeserklärung« gemacht hat. Nun hat sie Tränen:»Sie weint« – wie befreit von einer schweren Last:»Ach dies Glück weinen zu können.« Unter diesem Blickwinkel gleicht Dr. Felgentreus Liebesgeständnis einem für Oceane befreienden, gleichsam erlösenden Wort. »Und sie sank an seine Brust« 62 , lautet der letzte, diese Szene beschließende Satz. Die angedeutete Entwicklung Oceanes verläuft demnach von der Unwissenheit über die Selbsterkenntnis bis zum erlösenden Wort. Oder anders formuliert: vom behaupteten Glück über die Selbsterkenntnis zur Erfahrung eines ihr bislang verschlossenen Glücks. Es wäre falsch, in den aufgezeigten Parallelen mehr sehen zu wollen als Spuren, die der alte Text im neuen hinterlassen hat. Wolfram von Eschenbachs Parzival ist fest verankert im mittelalterlichen Glauben, dass nur die demütige Hinwendung zu Gott dem Menschen Teilhabe gewährt an der unerschöpflichen Gnadenfülle eines allmächtigen Gottes. Solcher Glaubensgewissheit steht in Fontanes Texten der tastende, von Fragen begleitete Einbezug christlicher Motive gegenüber. Und so wird auch im Oceane-Fragment fassbar, was Renate Böschenstein in verschiedenen Fragmenten Fontanes ausgemacht hat: eine»scheue Präsenz des Christentums« 63 . Dafür spricht nicht zuletzt auch der Name Oceane von Parceval.
Heft
(2020) 110
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