Heft 
(2020) 110
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Nomen est omen  Sill 125 IV. Und schließlich gilt es, noch auf eine weitere Sinnebene hinzuweisen, die mit der Figur Oceane von Parceval verknüpft ist. Die für das 6. Kapitel vor­gesehene»Sturmnacht« sollte nicht nur»Verwüstung am Strand« anrichten, sondern auch ein Opfer fordern:»Einer der jungen Schiffer todt an den Strand geworfen.« Oceane und der Protagonist schauen auf den Toten, der »in der Kapelle« aufgebahrt ist. Nun heißt es:»Sie bleibt ruhig.[...] Sie sagt ihm: es sei ein Bild gewesen. Nichts weiter.« 64 Ganz offenkundig sollte diese Szene nachdrücklich unter Beweis stellen, was zur Charakterisierung Ocea­nes als»moderne Melusine« vom Erzähler eingangs skizziert worden ist. Weder»Trauer« noch»Schmerz« empfindend, werde»alles was geschieht[...] ihr zum Bild« 65 . Paradigmatisch erfasst ist damit allerdings auch die Rolle, die Arbeit des Schriftstellers, die ja nicht erst am Schreibtisch beginnt, son­dern mit einer Beobachtung der Welt, in der potentiell alles zum Stoff litera­rischer Bearbeitung, zum Bild werden kann. Mit Blick auf die Figur Melusine von Barby im Stechlin hat Michael Ma­sanetz hervorgehoben, dass es sich bei ihr auf einer textexternen Ebene»um die Personifikation von zentralen Aspekten der künstlerischen Kreativität ihres Autors« handele,»z. B. von Phantasie und philobatischem Reizhunger. Freilich auch der distanzierten Beobachterrolle.« 66 Dies gilt bereits mit Blick auf ihre Vorläuferin Oceane von Parceval. Theodor Fontane: der fleißige Zei­tungsleser und Geschichtensammler; Fontane, der eifrige Spaziergänger, Bahnfahrer und Wanderer nicht nur durch die Mark Brandenburg, sondern auch über die Schlachtfelder der deutschen Einigungskriege diesem Fon­tane wurde alles zum potentiellen Stoff seiner Literatur. Unter dem genau beobachtenden Blick des Schriftstellers aber wird alles zum Bild, weil künstlerische Kreativität eine distanzierte Beobachterrolle unabdingbar vo­raussetzt. Melusine von Barby, so Michael Masanetz, sei»in diesem Sinne eine Allegorie der ästhetischen Einstellung und deren Produkt« 67 gleicher­maßen. Um so mehr gilt dies für Oceane von Parceval; eine Figur, die es Fontane erlaubte, auch die tragische Kehrseite künstlerischer Kreativität ins Bild zu setzen. Sich einzureihen»ins Schön=Menschliche« 68 , wie Oceane es ersehnt, ist unvereinbar mit der Distanz voraussetzenden Rolle des Schrift­stellers. Auch ihm muss wie Oceane der Schmerz, ja selbst der Tod zum Bild werden, wenn es gilt, das Menschliche darzustellen. Damit aber lebt der Schriftsteller wie Oceane in einer»Welt der Nicht-Empfindung«. Oceanes Aussagen über die»Welt der Nicht=Empfindung«, in der zu le­ben auch»ein Glück« 69 bedeuten könne, werden nur indirekt, also in pers­pektivischer Brechung wiedergegeben, und zwar im Gespräch der beiden Freunde. Darüber hinaus weist der Freund in einem anderen Gespräch auf einen weiteren Aspekt hin, der in unserem Zusammenhang nicht überse­hen werden sollte. Jeder Mensch, so der Freund, trage»den Lügensinn, den