126 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Diebssinn, den Ehebruchssinn, den Mordssinn« in sich, ob er sich dessen nun bewusst sei oder nicht. Niemand bilde da eine Ausnahme, nicht der, »der etwas thut«, noch der,»der dies Gethane beobachtet und beurteilt« 70 . Indirekt angesprochen ist damit erneut die paradigmatische Rolle des Schriftstellers, ist doch gerade er derjenige, der das Handeln der Menschen »beobachtet und beurtheilt«. Doch gelte eben auch für den Beobachter, was schließlich für alle Menschen zuträfe: Erst die Selbsterkenntnis, das heißt die Einsicht in die eigenen inneren Abgründe erlaube es, maßvoll zu handeln und Geschehenes mit»Maaß« zu beobachten und zu beurteilen.»Aber in allem entscheidet das Maaß« 71 – so die Schlussfolgerung des Freundes. Wäre es abwegig, darin auch das Credo des Menschen und Schriftstellers Theodor Fontane zu erblicken? V. Nein, ist es nicht. Fünf Jahre nach seiner Arbeit am Oceane-Fragment wird Fontane selbst vor einem aufgebahrten Toten stehen. Nur handelt es sich da nicht um einen fremden»jungen Schiffer« 72 , sondern um seinen eigenen Sohn George. Offenbar mit dem Vorwurf konfrontiert, in dieser Situation nicht genug»Kolossalschmerz« gezeigt zu haben, schüttet Fontane am 12. Oktober 1887 in einem Brief an seinen Freund Georg Friedlaender sein Herz aus. Mit einem»Eisblock« sei er verglichen worden, ja, er sei schlimmer noch als ein Eisblock:»Denn der kann doch wenigstens schmelzen.« 73 Heide Streiter-Buscher hebt das Symptomatische dieser Vorgänge rund um Georges Tod hervor:»Fontanes Panzerung, ›nur keine Sentimentalitäten‹, mit der er sich vor affektivem Zusammenbruch und Selbstverlust zu schützen gesucht hat, zieht sich wie ein roter Faden durch alle seine Lebensphasen und prägt in extremen Gefühlssituationen wie dieser sein Verhalten. Seine Mitwelt hat er damit irritiert.« 74 Und deshalb sah sich Fontane auch andernorts genötigt, dem Vorwurf der Gefühlskälte zu widersprechen. Seine Tochter Martha lässt er am 19. April 1889 wissen, das»sich Entschlagen aller Sentimentalitäten« habe nichts zu tun mit»Gleichgültigkeit oder Gefühlsmangel« 75 . Aber all diese Unterstellungen, so Fontane abschließend an Georg Friedlaender nach dem Tod von George, könnten seine Überzeugung nicht erschüttern:»Und doch ist Maß nicht nur das Schöne, sondern auch das Wahre. Sie sehen, selbst dieser schmerzliche Fall, der nun auf dem Rest meines Lebensweges neben mir hergeht, hat meine Menschenanschauung nicht geändert[...].« 76
Heft
(2020) 110
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