Heft 
(1989) 48
Seite
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Auch der Wahlsieg des jungen Lessing im Frühjahr 1896 war keineswegs der historische Fall" zur Wahlkampagne in Der Stechlin, da diese Episode seit Mo­naten schriftlich feststand, als der Zufall Fontane mit einerfatalen" Ähnlichkeit konfrontierte 4 . Der Erzähler Fontane ist aber nicht so aufgebaut, als daß ein paar Fehler die Hauptthese erschüttern könnten 5 , sondern beweist immer wieder im Allgemeinen wie im Einzelfall,Viele .Widersprüche' und .Ambivalenzen' sind nicht signifikant für Fontane, sondern signifikant für seine Generation und deren ideologische Entwicklung, die er gerade als politischer Mensch mitvollzogen hat." (37)

Derart mit Fontanes politischer Positionspalette gewappnet, kann Loster-Schneider für ihre erzähltechnische Systematik ein entschlossenes Modell von Fontanes Prosadichtung entwerfen.

Was [. ..] nicht bezweifelt werden kann, ist die Tatsache, daß Fontane ein­zelne Handlungselemente funktionalisiert, um innerfiktionale politische Einstellungen zu überprüfen. Es wird sozusagen eine fiktive Empirie erzeugt, die bestimmte Überzeugungen .objektiv' bestätigt oder wider­legt." (264)

Zu der erzähltechnischen Systematik gehören dann: Verlaufsmuster der Hand­lungen,das ironische Verfahren", d. h der Kontrast zwischen Worten und Folgetaten, Kommentare des auktorialen Erzählers, die auf einem Minimum gehalten werden, Namensgebung, Physiognomie, Charakterisierung und Wirkung einer Figur auf andere Romanpersonen, Abbruch des Themas bzw. Gesprächs, das Erreichen bzw. Verfehlen eines Konsenses, das zusammenfassend alsPer­suasionsstrategie" bezeichnet wird. Einmal ums andere führt die Autorin vor, wie die gleichzeitige Berücksichtigung dieser Techniken zu Interpretationen führt, die den privaten Äußerungen Fontanes gleich sind; wo sie unentschieden bleiben, kann man davon ausgehen, daß Fontane sich selber den Kopf darüber zerbrochen hat, wie beispielsweise zum Thema Antisemitismus. Ganz besonders aufschlußreich ist die Analyse der Technik, womit Fontane das Thema Kultur­kampf umsetzt und in seinem Sinne zu beeinflussen sucht. Unklar dagegen ist Fontanes Haltung gegenüber der Sozialistenverfolgung und deren Umsetzung: einerseits wird behauptet,das Reizthema [...] ist lange tabu' (141), dennda­hinter steht [...] die zentrale Furcht des gemäßigten Liberalismus vor (...] Ter­rorismus und Radikalismus", aber an anderer Stelle heißt es,daß Fontane ursprünglich von Gesetzesparagraphen gegen die Sozialdemokratie nichts gehalten hat" (194), eine Meinung, die allein aus dem Romanwerk hervorgeht. Auch hin­sichtlich der erwähnten Diskussion um die Kriegsschuldfrage gewinnt man den Eindruck, als habe der Dichter Fontane oft klarer und kritischer gesehen als der Zeitgenosse, womit die alte Formel vom kritischen Zeitgenossen und versöhn­lichen Dichter nahezu auf den Kopf gestellt wird. Aber in Der Erzähler Fontane herrscht unausgesprochen die Meinung vor, der Dichter sei sein bester, sein richtiger" Interpret.

Es sind also nicht die Einzelwertungen und -interpretationen, die den Rez. be­schäftigen, sondern eben jene unausgesprochene Meinung und die wiederholte Versicherung der Autorin, daß ihre Ermittlungsergebnisse nicht nur empirisch erreicht, sondern sogar selbstverständlich und vor allem für die Zeitgenossen Fontanes leicht erkennbar waren. Wenn man die historische Kärrnerarbeit er­bracht hat und über damals mehr weiß, als die Damaligen wußten, kann von Leserverständnis oder-akzeptanz" im gleichen Maße nicht ausgegangen werden. Wenn man uns Zeitgenossen und unseren zeitgeschichtlichen Durchblick, bzw.

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