dessen Mangel vergleicht, dann wird die Zahl derjenigen, die alle Anspielungen und Persuasionsstrategien Fontanes durchschaut haben, verschwindend klein gewesen sein. Und selbst solche vielwissenden Zeitgenossen hätten Fontanes Gesamtwerk — geschweige denn seine gesammelten Briefe! — nicht durch ein derart fortgeschrittenes Raster verarbeiten können wie hier geschehen. Daher und bei aller ernstgemeinten Bewunderung für die Gründlichkeit und Subtilität dieser Arbeit muß der Rez. konstatieren, daß es in dem Schlußkapitel „Wertung" infolge des Mangels an methodischer Selbstkritik zu so etwas wie einem schweren Störfall kommt.
In einer Wiederaufnahme des Forschungsüberblicks beginnt Loster-Schneiders „Wertung" damit, „drei gebräuchliche Forschungsurteile" zum politischen Autor Fontane zusammenzufassen:
„1. Die Romane reflektieren das politische Leben im Kaiserreich nur fragmentarisch"; gegen dieses mimetisch gebildete Urteil steht nun fest, daß Fontane weit mehr Themen verarbeitet hat als bisher angenommen.
„2. Was thematisiert wird, reicht wegen Polyperspektivismus [...] nicht an die Klarheit autobiographischer Äußerungen heran"; gerade dieses „Stagnationsurteil" hat Loster-Schneiders Darstellung auf beschämende Weise vernichtet.
„3. Was an kritischem Potential vorhanden ist, wird dem Leser oft verborgen, in diffizilen Sprach-Versteckspielen, historischen und figurbezogenen Sicherungstechniken angeboten." (295) Über diesen Ansatz, an dem der Rez. nicht unbeteiligt ist 6 , fällt sie folgendes Urteil: „Die Dezentheit der Lesermanipulation darf aber zumindest nicht im politischen Bereich als Argument für die These Fontanescher Sprach-Versteckspiele (...] dienen," (298) und zitiert dazu abschließend Henry Remak 7 : „die Auslegung Fontanes ist keine hermeneutische Kunst. Nur Geschichte muß man kennen." (299) Doch gerade das Gegenteil beweist Der Erzähler Fontane einerseits dadurch, daß es Fontanes eigenes Bezugssystem für die Hermeneutik zur Verfügung stellt, andererseits durch seine hochdifferenzierte erzähltechnische Systematik, die die Autorin äußerst kunstvoll aufzuschlüsseln versteht. Allerdings sind Fontanes Stilmittel und ihr Einsatz oft derart abgewogen, daß die behauptete Eindeutigkeit des Ergebnisses auch angezweifelt werden darf. Und wenn man dann von vornherein weiß, wie die Interpretation auszusehen hat, läßt sich der Weg dorthin leichter verbiegen.
Auch der im Einzelfall verwendete Wortschatz läuft öfters auf kunstvolles Interpretieren hinaus: „politischer Angriff und seine persönliche Deckung" (199), „das diffizile Geflecht von Kritik und erzähltechnischen Mitteln" (203), „versteckte Kritik" (205), „figurative Erzählerironie" (209), „verdecktes Verfahren" (212), „die Schärfe seiner Ironie kaschiert" (213), „Anschein harmloser Zeitabge- wandtheit" (217), „Assoziationskette" (253), „Dekodierung" (256), „umgekehrt formuliert" (262), „dechiffrierbares Erzählmuster" (269), „Spiel werkimmanenter Meinungskontraste" (269), „Spiel mit den wichtigsten Namen" (291) und natürlich „Demaskierung" (293) — alles Aspekte, die für Loster-Schneider unter den Begriff der „indirekten Darstellung" fallen. Sogar das Kabinettstück S. 250—7, wo mittels farbsymbolischer Kombination und Assoziationskette Bismarck als die heimliche Identität hinter Effis Chinesenspuk nachgewiesen wird, soll den zeitgenössischen Erfolg — ohne jeglichen Beleg außer der eigenen Hermeneutik — begründen. Die Konsequenz davon ist, daß bei dem Versuch, Fontanes angebliche Erfolglosigkeit zu begründen, nicht etwa sein zu hoher Anspruch an den Leser
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