144 Fontane Blätter 110 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Die Gäste waren natürlich erschrocken, verlegen, ratlos, sollen aber die Kirche sogar unter Lachen verlassen haben, wie das eben ist, wenn man nicht weiß, wie man reagieren soll. Es geschah aus diesem Kreis heraus auch weiter nichts, keine Anzeige, keine Beschwerde, die Sache hätte folgenlos bleiben können. Die nachträglich einsetzende öffentliche Empörung ist deshalb viel aufschlussreicher für die Stellung der Kirche in der damaligen Gesellschaft als der Vorfall selbst. Eine Zeitung nämlich, die Frohnauer Staatsbürger-Zeitung, bekam Wind von der Sache und brachte eine Woche später darüber einen längeren Bericht. In durchaus vergröbernder Darstellung zum Nachteil des Pfarrers bezeichnete sie den Vorfall als»exorbitantes Attentat«, als»maßlose Ausschreitung eines zelotischen Dieners der ›Religion der Liebe‹« und sah Zeiten heraufkommen, in denen die»Gefahr einer Prügelei zwischen Bräutigam und Prediger« vor dem Altar drohe. Der Staat müsse endlich durch die»schleunigste Einführung der allgemeinen Civilehe« solchen Zuständen ein Ende setzen, vor allem aber»Herr Fournier wegen Mißbrauchs seiner Amtsgewalt durch öffentliche Mißhandlung eines Menschen strengstens zur Rechenschaft gezogen werden«. 22 Dazu kam es auch. Der Artikel rief die Staatsanwaltschaft auf den Plan, die Fournier vor Gericht brachte. Eine mit drei Richtern besetzte Kammer hörte am 30. Juni 1869 elf Zeugen an und verurteilte ihn zu 300 Talern Geldstrafe oder vier Monaten Gefängnis. 300 Taler oder 900 Mark waren ein durchaus erheblicher Betrag, nach heutigem Wert leicht mit zehntausend Euro anzusetzen. Fournier machte geltend, dass er die Braut keineswegs geschlagen, sondern allenfalls gestikulierend ihre Wange berührt habe, und wenn, so sei es keine Amtshandlung gewesen, da er gar kein staatliches Amt innehabe. Der Staatsanwalt redete mit Engelszungen auf ihn ein, den Vorgang zuzugeben, dann könne bei einem verdienten Mann wie ihm auch Nachsicht geübt werden, doch vergeblich. So konnte das Gericht zu seinem Bedauern mildernde Umstände kaum erkennen, und es kam zu der verhängten Strafe. 23 Fournier allerdings sah seine Verurteilung nicht ein und ging in Berufung. So befasste sich am 17. Dezember 1869 auch noch das Berliner Kammergericht mit der Ohrfeige, diesmal mit fünf Richtern und wiederum elf Zeugen, nur ohne Fournier, der sich durch einen Anwalt vertreten ließ. In der Befragung der Braut, die bei der ersten Verhandlung nicht hatte erscheinen können, kam dabei etwas zur Sprache, was zuvor nicht berührt worden war: dass sie fünf Tage nach der Trauung eine Fehlgeburt erlitten hatte. Der Staatsanwalt wollte wissen, ob sie die»unrichtigen Wochen« allein auf die Behandlung durch Fournier zurückführe oder noch durch andere Vorfälle beunruhigt worden sei. Sie bestätigte den Zusammenhang und beklagte, noch immer nicht wieder ganz gesund zu sein. Nach Vernehmung aller Zeugen, also einer erneuten Beweisaufnahme, sah sich auch die zweite Instanz von der Schuld Fourniers überzeugt und bestätigte das Urteil der ersten. 24
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(2020) 110
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