Heft 
(2020) 110
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182 Fontane Blätter 110 Rezensionen Demnach liegt ein Hauptgrund für die Popularität der Gartenlaube vielleicht gerade darin, dass sie auf gesellschaftliche Differenzen und Brüche nicht durch populistische Vereindeutigung oder gezwungene Harmonisierung reagierte, sondern innerhalb eines gewissen Rahmens Meinungspluralität und Diversität zuließ. Aus dieser Erkenntnis zieht Stockinger(mit Bezug auf Marlitts Roman Das Geheimniß der alten Mamsell) an einer Stelle die Schlussfolgerung, dass die»Zeitschriftenfassung« der abgedruckten literarischen Texte»der Buch­fassung überlegen ist, weil ihre spezifische mediale Logik vertiefende Deu­tungsspielräume eröffnet«(S. 174). In dieser allgemeinen Form muss die Aussage freilich Widerspruch provozieren. Zwar ist nachvollziehbar, dass das komplexe Netzwerk von para- und peritextuellen Bezügen die fiktionsin­tern behandelten Themen gewissermaßen ausdifferenzieren kann und die Gartenlaube insofern bisweilen ›mehr‹ aus den Texten macht, als ursprüng­lich in ihnen steckt. Doch müssten hier auch die spezifisch anderen»Mög­lichkeiten der Aufmerksamkeits- und Sympathielenkung« und der»Span­nungssteigerung«(ebd.), die in der Buchlektüre zum Tragen kommen, Berücksichtigung finden, ebenso wie die Frage nach unterschiedlichen Gra­den an formaler und thematischer Komplexität in den fiktionalen Texten selbst. Der Vorstellung, dass die Prävalenz der Zeitschriftenfassung etwa auch bei einem Text wie Theodor Storms Im Schloss anzunehmen wäre, wi­derspricht auch Stockingers eigene Analyse dieses Beispiels(S. 342–344). Der Mehrwert der kontextuellen Einbettung in Texte und Leserbeiträge rund um das Thema ›Darwinismus‹ beschränkt sich hier darauf, dass Storms Novelle in diesem Zusammenhang»gar nicht auf[fällt]«(S. 343). Unabhängig von der Frage nach den Unterschieden von Zeitschriften­und Buchpublikation können die aufgezeigten Verknüpfungen von textuel­ler Organisation und ideologischer Positionierung den Erfolg des Familien­blattes aber in einer anderen Weise erhellen: Die in der Gartenlaube perfektionierte Vernetzung von Texten korrespondierte mit dem, was Sto­ckinger als anthropologische Basisprämisse der Zeitschrift identifiziert: der Annahme vom»Menschen als vernetzte[m] Wesen«(S. 46). Die auf der Titel­illustration der Zeitschrift abgebildete Gartenlaube, in der man sich zum familiären Austausch trifft, will demnach mehr zeigen als eine ›deutschge­mütliche‹ Heile-Welt-Fiktion. Die Illustration und damit die titelgebende Metaphorik weisen auf die Integration des Menschen in interpersonale(fa­miliäre) Strukturen und Kommunikationsprozesse. Zu dieser Deutung ließe sich ergänzen, dass die Abhängigkeit von familiären Netzen und Beziehun­gen ja keineswegs nur ein bürgerliches Wunschbild war; vielmehr zeigen gerade jüngere alltagsgeschichtliche Darstellungen, dass die»familiäre Ge­fühls- und Wirtschaftsgemeinschaft«, wie sie die Gartenlaube zum Pro­gramm erhob, für viele Menschen des 19. Jahrhunderts gelebte Realität war (Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Kon-