Claudia Stockinger: ›Die Gartenlaube‹ Grüne 183 sum- und Arbeitergesellschaft 1840–1940. Göttingen 2020, 43). Wobei die räumliche Entfernung einzelner Mitglieder etwa durch Auswanderung oder durch längere Auslandsaufenthalte nicht bedeuten musste, dass die familiären Netzwerke ihre stabilisierende Wirkung zwangsläufig verloren hätten. Insofern konnte auch die von Stockinger beschriebene territoriale Entgrenzung des Heimatbegriffs in der Gartenlaube(S. 269), die darauf abzielte, deutsche bzw. deutschsprachige Leser in aller Welt in den imaginären Familienkreis der Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft aufzunehmen, durchaus mit der Erfahrungswirklichkeit der Leser korrespondieren. Mit diesen Überlegungen zum Konzept vom vernetzten Menschen bereitet die Studie den Weg für weiterführende literaturgeschichtliche Untersuchungen, die sich für die Querverbindungen zwischen realistischer Poetik und den Produktions- und Rezeptionspraktiken von Familienblättern wie der Gartenlaube interessieren: Denn auch in der Literaturtheorie der 1850er und 60er Jahre zeigt sich jene Ausrichtung auf eine»enge Produzenten-Rezipienten-Kommunikation«(S. 61), wie sie Stockinger für die Gartenlaube herausarbeitet. Auch hier werden serielle Erzählformen besprochen bzw. erprobt und die Rezipienten eingeladen, die Textwelt als»eine Art ›Parallelwelt‹« wahrzunehmen,»die der eigenen Lebensrealität ähnlich, mit ihr aber nicht identisch« ist(S. 258). Die Rekonstruktion eines historisch wie medial differenzierten Realismuskonzeptes, das die literarischen und journalistischen Schreibpraktiken dieser Zeit gleichermaßen berücksichtigt, könnte an diesem Punkt ansetzen. Es gibt also weiterhin gute Gründe für die Literaturwissenschaft, sich mit den Textstrukturen und formalen Organisationsprinzipien von Familienblättern im Allgemeinen und der Gartenlaube im Besonderen zu beschäftigen. Befreit man sich von dem Vorurteil, man habe es lediglich mit ›Kitschpostillen‹ zu tun, so zeigt sich, dass gerade bei dieser Form von ›Literatur‹ mit ihren engmaschigen Verknüpfungen und weitreichenden Verzweigungen eine»auf bloß oberflächliche Aufmerksamkeit abonnierte Lektürehaltung[…] nicht funktioniert«(S. 196). Stattdessen verlangt die textuelle Organisation eine konzentrierte, wenn nicht ›exhaustive‹ Lektüre(S. 25) – auch vom literaturwissenschaftlichen Leser. Diesem Anspruch wird Stockingers Studie zur Gartenlaube in jedem Fall gerecht. Matthias Grüne
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(2020) 110
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