Heft 
(2020) 110
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Georg Herwegh: Werke und Briefe  Rasch 185 Fontane betrachtete später die politische Lyrik des Vormärz keineswegs un­kritisch, vor allem die der zahllosen jungen Herwegh-Nachahmer, zu denen er selbst gehört hatte. Doch der Dichter selbst blieb in seinen Augen unan­gefochten eine poetische Ausnahmeerscheinung. In Von Zwanzig bis Drei­ßig verteidigt er ihn nachdrücklich und weist in einer Fußnote darauf hin, »daß alles Spöttische, was ich hier gegen die Freiheitsphrasendichtung je­ner Zeit ausgesprochen habe, sich wohl gegen uns Herweghianer von da­mals, aber nicht gegen Herwegh selbst richtet. Ich will nicht bestreiten, daß auch das, was Herwegh in Person geschrieben hat, vielfach an Phrase leidet, aber es ist durch eine ganz ungewöhnliche Fülle von Geist und Talent auf eine solche Hochstufe gehoben, daß, für mich wenigstens, die Frage ›Phrase oder nicht‹ daneben verschwindet.« So nimmt es nicht Wunder, dass Fontane­1889 bei einer öffentlichen Umfrage nach jenen»besten Büchern«, die man unbedingt gelesen haben sollte, auch Herweghs Werke zählt, von denen er kategorisch»beinahe alles« empfiehlt. Nicht nur»beinahe alles«, sondern wirklich alles kann man heute in ei­ner 2019 abgeschlossenen sechsbändigen»kritische(n) und kommentierte(n) Gesamtausgabe« von Georg Herweghs Werken und Briefen nachlesen. In je zwei Bänden wird Herweghs Lyrik(darunter auch die Gedichte eines Le­bendigen), seine Prosa(Literaturkritik, Korrespondenzartikel, politische Publizistik, Theaterkritik) sowie seine Korrespondenz in größtmöglicher Vollständigkeit, chronologisch angeordnet und mit Hilfe umfangreicher Apparate dargeboten. Ausgespart wurden aus dem Werkkomplex nur die Übersetzungsarbeiten Herweghs, darunter seine acht Übertragungen Shakespearscher Dramen aus den 1860er Jahren. Den Übersetzungen wur­de von den Herausgebern im editorischen Sinne grundsätzlich kein Werk­charakter zugesprochen, so dass sie auch nicht zur Ausgabe der Werke ge­hören. Diese Ausgabe schließt eine gravierende Editionslücke. Denn die einzige umfangreichere Werkausgabe Herweghs, mit der die Forschung jahrzehn­telang arbeitete, erschien vor dem Ersten Weltkrieg. Sie war 1909 von Her­mann Tardel für Bongs»Goldene Klassiker Bibliothek« veranstaltet worden. Die Ausgabe Tardels ist aus philologischer Sicht schon lange veraltet. Sie enthält auch bei weitem nicht alle Texte Herweghs, verzichtet ganz auf Briefe und bietet eine(aus heutiger Sicht) unsichere Textkonstitution. Unter ande­ren sind die Texte damals ›modernisiert‹ worden, d. h. Orthographie und Zeichensetzung wurden den seinerzeit gängigen Rechtschreibregeln ange­passt. Einige gute Einzelausgaben von Herwegh-Texten im Laufe des 20. Jahrhunderts(vor allem von Bruno Kaiser) haben die editorischen Defi­zite nie ausgleichen können. Sie sind nun mit dieser Gesamtedition beseitigt. Wir haben endlich, kritisch ediert und kommentiert, den ›ganzen‹ Herwegh. Allein in quantitativer Hinsicht ist der Fortschritt erheblich, denn die Menge