Allenhöfer, Manfred: Vierter Stand und alte Ordnung bei Fontane. Zur Realistik des bürgerlichen Realismus. — Stuttgart: Heinz Akademischer Verlag 1986. 181 S.
(Rez.: Roland Berbig, Berlin)
Titel und Untertitel der Untersuchung könnten die Vermutung zulassen, hier handele es sich um die Wiederaufbereitung eines wissenschaftlich erledigten Themas der Fontane-Forschung. Auch darüberhinaus gesehen, zählt die Realismus- Diskussion seit einiger Zeit nicht mehr zu den bevorzugten Strecken literaturtheoretischen Bemühens.
Allenhöfer ließ sich durch derartige Trends nicht schrecken und fällte die Entscheidung für eine literatursoziologische Methode, die er mit folgenden, z. T. allerdings nur halbherzig befolgten, Vorüberlegungen begründete. Für ihn ist der immer wieder betonte Altersradikalismus Fontanes wissenschaftlich nicht zureichend geklärt. Den von Reuter postulierten Widerspruch bei dem Dichter zwischen Erkenntnis und Gestaltungsvermögen, der in der unzureichenden Darstellung des Vierten Standes besonders augenfällig zum Ausdruck gekommen sei, bezweifelt der Verfasser. Die von K. Attwood u. a. festgeschriebene Beobachtung von einer epischen Unterrepräsentanz dieses Standes im Werk Fontanes qualifiziert er als fortwirkendes Vorurteil.
Noch einmal also steht im Mittelpunkt einer Untersuchung das Verhältnis zwischen Motivik, Fabel und Figuren zur ermittelbaren zeitgenössischen Realität. Bleibt, so die alte Frage, Fontane in seinen Zeitromanen »hinter* der sozialen Wirklichkeit „zurück" — oder ist über eine Analyse der gestalterischen „Feinstrukturen, durch Bezugsetzungen zum Kontext und zu Parallelmotiven sowie durch Übertragungen von Lösungsmustern* in der „kalkulierte(n) Kunstleistung* (4) dem Schriftsteller Abbitte für die Unterstellung zu leisten?
Die Arbeit tritt mit dem Anspruch auf, in die beabsichtigte Analyse den aktuellen Stand von Geschichts- und Sozialwissenschaften einzubeziehen. Der Wandel Fontanescher Auffassungen seit 1880 sei verursacht durch den Wandel der sozialen Welt, die ihn umgab. Die neuere Forschungsliteratur, die diesen Wandel hinsichtlich der Differenzierung des Zusammenspiels zwischen den sozialen Kräften und das tatsächliche Bild der unterbürgerlichen Schichten erfaßt (Arbeiten von K. E. Born, David Crew, Karl W. Deutsch, Jürgen Kocka u. a.) wird ergänzt um einige, meist einschlägige, Erläuterungen zum sozialen Rollenverhalten (H. P. Dreitzel, J. Habermas). Der Hauptgedanke, den der Verfasser in jenen Forschungen bestätigt findet, sieht in dem Industrialisierungsfortschritt seit 1880 die parallel laufende Auflösung einer statischen Gesellschaft. In dieser Auflösung verwandelt sich die untere Schicht aus einer passiven in eine aktive Kraft; es entsteht eine neue Unterschicht, die in ein Spannungsverhältnis zur alten gerät. Dieser „äußere" Vorgang, der sich mit anderer Terminologie schlüssiger beschreiben läßt, hat eine „innere* Entsprechung: Klassenbewußtsein und verinnerlichtes Rollenverhalten splittern auf und bringen Unterschiede vehement zutage. Diese Unterschiede seien dem genauen Beobachter und Erzähler Fontane nicht entgangen. „Fontane hat entscheidende Momente der zeitgenössischen sozialökonomischen Entwicklung (in seinen späten Romanen — R. B.) integriert, freilich in spezifischer, rezeptiv zu komplettierender Weise.* (24) Diese These will Allenhöfer beweisen, ihr gilt sein vornehmliches Interesse. Mit ihr verbindet er die Behauptung, daß Fontanes nachmärzliche Poetik des Realismus das epische Vor-
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