Hohen-Cremmen im Unterschied zur entfremdeten in Kessin. Die Umkehrung des »vornehmen Hauses" ins »Spukhaus', die »Verwandlung der schützenden Funktion eines Obdaches zum angsterregenden Gegenstand" (S. 107) ist der wesentliche Inhalt dieses Kapitels. Der tote Chinese, der sich für Effi aus dem exotischen Reiz zum Spuk verändert, wird in enger Beziehung zur verdinglichten gesellschaftlichen Situation Effis im Ostseeort gesehen. Die Labilität Effis im Verhältnis zur Gestalt des Chinesen wird darüber hinaus mit einem widerspruchsvollen exotisch-barbarischen China-Bild in Zusammenhang gebracht, das damals in Europa bestanden habe.
Es folgt ein Exkurs über „Irrungen, Wirrungen" und „Romeo und Julia auf dem Dorfe". Die unentschiedene Liebe Botho von Rienäckers zu Lene Nimptsch wird unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Umwelten mit der Konsequenz der Liebenden bei Gottfried Keller konfrontiert. Den zweiten Höhepunkt in der Raumuntersuchung, nach dem Kapitel „My home is my castle", bilden die Abschnitte über die Begriffe »oben" und „unten", »rechts" und »links", „schräg" und »schief". Treppe und Boden im landrätlichen Haus, Stuhl und Sofa mit Versenkungsprinzip in der Wohnung Gieshüblers werden in ihrer räumlichen Symbol- haftigkeit gedeutet. Am Ende ergibt sich Zusammensicht von „oben“ und »rechts", verkörpert durch Innstetten, während Effi nach „links" tendiert und von Absturz und Versinken bedroht ist. Anthropologische Ausgangspositionen, vorgegeben durch Begriffsdefinitionen F. O. Bollnows oder Alfred Adlers, werden von Shieh interpretatorisch sozial korrigiert.
Die abschließenden Passagen über „das Duell", „die nicht verbrannten Briefe“ und „die Schuld- und Unschuldfrage" dienen mehr der allgemeinen Interpretation und der Abrundung. Am interessantesten sind dabei die Ausführungen über das Duell. Sie stellen u. a. fest, was Fontane in der Duellbehandlung nicht geleistet habe (kein Eingehen auf die Rolle der Frau bei der Duellfrage, keine Beschreibung von Innstettens seelischer Verfassung auf dem Wege zum Duell usw.).
Die Untersuchung Jhy-Wey Shiehs bewegt sich also zwischen konkreten raumuntersuchenden Kapiteln und allgemeineren Passagen. Der Hauptwert liegt in der Erschließung bisher übersehener „Finessen" Fontanes bei der Gestaltung der Mensch-Raum-Beziehung in „Effi Briest". Räumlich orientierte Untersuchungen wie die von Margret Rothe-Buddensieg 4 oder von Klaus Haberkamm 5 sind in Details produktiv weitergeführt. Es fehlen indessen trotz der zahlreichen Seitenblicke und Verweise auf andere Romane Fontanes verallgemeinernde Feststellungen und Bewertungen der Raum-Gestaltung Fontanes, wie sie Elsbeth Hamann in ihrer Gesamtanalyse von „Effi Briest" „aus erzähltheoretischer Sicht" 6 liefert. Hervorhebenswert sind ferner Beobachtungen und Aussagen zum Menschenbild in „Effi Briest", zum Handeln und Verhalten der Figuren, zu ihrer sprachlichen Porträtierung, sogar zu ihrer Sexualität.
Wie schon in anderen neueren Untersuchungen begegnet man auch hier, in der Einleitung (S. 11 f.), der Ansicht, daß die Fontane-Renaissance erst in den 60er Jahren ihren Anfang genommen habe. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß sich in der DDR bereits in den 50er Jahren unter dem Einfluß von Georg Lukäcz und Hans Mayer eine marxistisch orientierte Fontane-Pflege und -forschung, verkörpert durch I. M. Lange, A. M. Uhlmann, Hans-Heinrich Reuter u. a„ herausbildete.
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