Zur Erforschung von Fontanes Kriegsbüchern Ewert 165 2) Einen methodischen Zugang zur Analyse von Fontanes Kriegsbüchern eröffnen Oskar Negt und Alexander Kluge: Es wird der Anschein erweckt, als sei nur die industrielle Produktion des Hinterlandes Kriegsproduktion, während das, was an den Fronten geschieht, als Kampf, Sieg oder Niederlage, Vormarsch oder Rückzug, Heldentum oder Feigheit, d.h. offenbar als etwas ökonomisch nicht Faßbares erscheint, auf das die Kategorien von Arbeitskraft und Produktion nicht passen. In Wirklichkeit ist Krieg nicht nur ›Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‹, sondern es sind dieselben gesellschaftlichen Produktivkräfte, Produktionsweisen, Produktionsverhältnisse und Verkehrsformen, dasselbe geschichtliche Produkt, das im Krieg in anderer Öffentlichkeit in Erscheinung tritt, die einige ihrer Ausgrenzungsmechanismen abgestreift hat. Deshalb ist es wichtig, die gleichen analytischen Kategorien auf den Krieg anzuwenden, wie auf jeden anderen ökonomischen Bereich, gerade wegen des Fremdheitsgefühls, das solche Bezeichnungen provozieren. 6 3) Neben anderen gattungstypologischen Traditionen(Reisefeuilleton, Volksbuch, Anekdote, Kriegsberichtserstattung etc.) bildet die Panegyrik ein lohnendes Untersuchungsfeld. Das betrifft insbesondere die Glorifizierung des Heerführers und die Ästhetisierung des soldatischen Daseins. 4) Einer genaueren Analyse bedarf die Anonymisierung des Gegners, der in den jeweiligen Gefechtsformationen als anonyme Masse wahrgenommen und beschrieben wird. In Form einer Entindividualisierung und Verdinglichung schreiben sich so Gewaltstrukturen des Krieges in Textualisierungsprozessen fort. 5) Auch in den Kriegsbüchern arbeitet Fontane mit Leerstellen. Die Makroperspektive der Darstellungen provoziert geradezu einen Wechsel in die (fast durchgängig ausgesparte) Mikroperspektive, z.B. indem im Detail gezeigt wird, wie mit Hilfe des Bajonetts Kontrahenten im Nahkampf zerhackt und zerstückelt werden. 6) Unter Bezug auf die»Modernisierungsthese« 7 wäre noch näher zu untersuchen, wie sich die auf neuen Waffentechniken, Kommunikationsund Transportmitteln beruhende Modernität des Krieges zu den mythisierenden und romantisierenden Erzählgesten verhält, die einen heldenhaften Kampf hypostasieren. 7) Jeder Krieg – das gilt für die Geschichtsschreibung der Antike wie für den embedded journalism – hat seine eigene Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit wird selbst zu einem Organ des Krieges. Der deutsch-französische Krieg fällt in eine Zeit medialer Revolutionen, zu denen auch der expandierende Zeitschriftenmarkt und eine auf aktuelle Ereignisse reagierende Schulbuchproduktion zählen. Zu fragen wäre, welche Funktionen die Kriegsbücher in diesem Rahmen einnehmen(wollen) und welche Wirkung von ihnen, u.a. auf die Literaturproduktion und den nationalen Kanon, ausgeht.
Heft
(2021) 111
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