Heft 
(2021) 111
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»Kriegsgefangen« Brosig 191 seiner Reise, die den Kriegsreporter am 5. Oktober 1870 hinter die preußi­schen Linien nach Domrémy führt, wo er am Geburtshaus der Jeanne dArc in die Hände französischer Freischärler gerät. Wesentlicher noch widmet sich Hehle jedoch dem Text, der aus diesen Kontexten hervorgeht. Dabei bringt sie den Leser nicht einfach nur auf den Stand der Forschung. Viel­mehr akzentuiert sie diese im Sinne des Nachwort-Titels»Vom Kriegsgefan­genen zum freien Autor«(S. 243), indem sie Kriegsgefangen als Fontanes »erstes erzäh­lerisches Werk«(S. 251) profiliert, das seine Prägungen aus den existenzerschütternden Erfahrungen der Haft bezieht. Die zur Geltung ge­brachte Lesart positioniert Fontane und seinen Text auf einer Schwelle, zu­erst auf einer, die seine Autorrolle betrifft. Noch aus dem Auftrag der König­lichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei im Zusammenhang mit dem dritten Kriegsbuch hervorgehend, weist das Werk schon auf die spätere Existenz als freier Schriftsteller voraus: Nach Abschluss der Kriegsbuchtri­logie mit Der Krieg gegen Frankreich(1875/1876) wird Fontane seine 12-jäh­rige Tätigkeit als Chronist der Reichseinigungskriege beenden und sich ab Vor dem Sturm(1878) mit seinem»Romanschriftstellerladen« 6 als Romancier etablieren. Eine übergängige Position indiziert Kriegsgefangen aber auch im Zu­sammenhang des Gesamtwerks. In ihm bildet das Werk eine Art Scharnier, das durch seine Verbindung mit anderen Textgruppen Zuordnungsproble­me verursacht. Während die stofflich-thematischen Linien zur Reiselitera­tur, zur Kriegshistorik und zur Autobiografie auf der Hand liegen, betont Hehle die erzählerischen Qualitäten des Textes, die ihn an die späteren Ro­mane und Novellen anschließen:»Neu aber ist die narrative Gestaltung dra­matischer eigener Erlebnisse, neu die Entwicklung einer Handlungslinie, die nicht allein von der zeitlichen Abfolge der Ereignisse und geographisch vorgegebenen Gliederungsprinzipien vorgegeben ist, sondern den Anforde­rungen an einen erzählerischen Plot entspricht.«(S. 252 f.) Dazu kommen weitere Fiktionsmittel, kunstgesättigte Kapitelmotti, Vorausdeutungen und Cliffhanger, aber auch spannungsreiche»›Duell‹-Dialoge«(S. 253) und nicht zuletzt Ironie und Komik. Hehles Befunde sind Teil einer Deutung, die den Erzähltext als Strategie der Bewältigung und Selbstermächtigung begreift, als»Versuch, literarische Souveränität über die eigene im Krieg erlebte Ge­schichte zu erlangen und sich[] als Gefangener als ordnendes, organisie­rendes Zentrum der Erzählung zu etablieren.«(S. 260) Die verhängnisvolle Reise»ins alte romantische Land«(S.[9]) wird so als eine zu sich selbst les­bar, zum Künstler und Schriftsteller Fontane(S. 253). Dem letzten Wort des Textes»Frei«(S. 229) eignet in diesem Zusammenhang ein doppelter Sinn: »Die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft und ihre Bewältigung durch das literarische Erzählen, das kreative Verfügen über die eigenen Erlebnisse und Beobachtungen tragen zur Konstituierung des freien Autors Fontane bei.«(S. 261)