Heft 
(2021) 111
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192 Fontane Blätter 111 Rezensionen Wenngleich auch der im be.bra-Verlag erschienene Band Fontanes Kriegs­gefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging den befrei­ten Erzähler an exponierter Anfangsstelle zitiert(S. 7, auch S. 134), verfol­gen Gabriele Radecke und Robert Rauh doch einen anderen, gewissermaßen entgegengesetzten Weg: von der»Dichtung« zurück zur»Wahrheit«. Nicht die literarisch bewältigte Ausnahmesituation in der Lesart der Selbstfin­dung steht im Zentrum, sondern die historische Wirklichkeit hinter dem Text. Wie im Vorwort(S. 7–10) dargelegt, zielen die Autoren auf eine um­und zusammenfassende Rekonstruktion von Fontanes Inhaftierung und Rettung, was die Differenzierung ihrer verschiedenen Phasen und die Ge­wichtung der beteiligten Akteure einschließt. Wie und wo genau wurde Fontane verhaftet? Auf welche Weise wirkten die nach seiner Gefangen­nahme aktivierten Netzwerke zusammen und wer leistete den entscheiden­den Beitrag zur Rettung des Schriftstellers Bismarck oder Crémieux, der französische Justizminister? Bei der Aufklärung der Lücken und Widersprüche, die eine ca. 100 Jah­re andauernde Aufarbeitungsgeschichte hinterlassen haben(S. 8), spielt Kriegsgefangen zwar die Rolle eines privilegierten, aber hinterfragungs­pflichtigen Zeugen: Fontanes Aussagen werden mit Einträgen seiner Notiz­bücher konfrontiert und mit anderen Quellen, unbekannten und bekann­ten, literarischen, brieflichen und amtlichen, überprüft, relativiert und korrigiert. Radecke und Rauh bedienen sich jedoch nicht nur der etablier­ten Instrumente historischer Literaturforschung. Hinzu tritt eine Methode, die neben ihrer Erkenntnisfunktion die Darstellung prägt und die»Unter­suchung«(S. 9) zu einem Reisebuch erweitert: Die Autopsie der wichtigsten »Originalschauplätze in Frankreich«(S. 10), vor allem in Domrémy, Besan­çon und auf Oléron. Aufbau und Struktur des Bandes folgen der Intention, Fontanes»drama­tische Geschichte«»erstmals aus zwei Perspektiven« zu erzählen, und zwar »aus der Sicht des Gefangenen und der seiner Helferinnen und Helfer«(S. 8). Dass dabei die Haftereignisse der französischen Schauplätze einen größe­ren Raum einnehmen als die zumeist von Berlin(»Zentrale Rettungsstelle«, S. 67) ausgehenden Parallelhandlungen zu Fontanes Freisprechung(explizit: »Es ist ein Unglück passiert. Auf der Suche nach dem verlorenen Freund«, S.  67–77), ist zwar auch der Quellenlage geschuldet. Die Gewichtung der Schauplätze steht aber auch mit dramaturgischen Erwägungen im Bund. Diese betreffen den Darstellungsmodus des Bandes, der mit»Untersuchung« (S. 9) zwar zutreffend, aber nicht hinreichend beschrieben ist. Mehr noch erwartet den Leser eine Erzählung, genauer: eine unterhaltsame For­schungs- und»Fall«- Geschichte im narrativen Sinn(S. 8). Das mutet zuerst wie ein performativer Widerspruch an distanzieren sich Radecke und Rauh doch vom»Feld der Literarisierung«(S. 10), auf dem ihre Hauptquelle angesiedelt ist. Auf den zweiten Blick scheint das Verfahren jedoch durchaus