»Kriegsgefangen« Brosig 193 vom Wanderungen-Autor selbst inspiriert. Überdies hat es Robert Rauh schon in vergleichbaren publikumswirksamen Büchern zum Wanderungen-Komplex erprobt. 7 Gegründet auf ambulanter Geschichts- und Notizbuch-Forschung, auf gegenwärtiger Ortsbesichtigung und unterhaltsamer Erzählung, hat es in der Fontane-Literatur zwar schon Platz, aber noch kaum Begriff: Science- oder Histotainment? Popularisierte Literaturforschung oder lokale Literaturgeschichte als kriminalistische»Fall«-Erzählung? Anstelle von Schlagwörtern seien hier einige Verfahren und Darstellungsmittel benannt, mit denen Radecke und Rauh Fontanes Kriegsgefangenschaft inszenieren und den Leser zum teilnehmenden Beobachter ihrer Recherchen machen. Zum Repertoire gehört ein auktorialer Erzähler mit Kommentar- und Regiefunktion, der vor allem unterschiedliche Zeiten, Orte und Ereignisse vermittelt. Hinzu kommen Spannung und Atmosphäre erzeugende Zwischenüberschriften(»Wellen in Warnemünde«, S. 13;»Welche Illusionen!«, S. 49;»Emilie toll, Fontane im Rollstuhl«, S. 136), Vorgriffe und Cliffhanger(»Der Schicksalstag nahm seinen Lauf.«, S. 24) sowie szenische Vergegenwärtigungen von Schauplätzen, Situationen oder Gesprächen. Die Evidenz von Fontanes Geschichte verstärken zudem zahlreiche Illustrationen, die wie im Falle des bei Fontanes Verhaftung konfiszierten Revolvermodells oder häufig eingeblendeter Notizbuch-Eintragungen Authentizität vermitteln und Aufmerksamkeit erzeugen(S. 25, z.B. S. 19). Ähnliche, aber weitreichendere Wirkungen resultieren aus der Autopsie der französischen Originalschauplätze. Wie bei der»Spurensuche in der Zitadelle« von Besançon(S. 54) ist der Leser dabei nicht nur Empfänger von Forschungsergebnissen. Vielmehr machen ihn Radecke und Rauh zum Zeugen jener Aufklärungsarbeiten, die in der Erzählgegenwart noch andauern (S. 54–58, vgl. dazu auch S. 83–84). Die Effekte dieser»Tatort«-Besichtigungen gehen über die konkreten Ermittlungsziele hinaus und sind durchaus ambivalent: Einerseits wirkt der Schauplatz als Brücke zu Fontanes Geschichte und als ihr Bürge: Er beglaubigt die Hafterzählung und lässt Vergangenheit und Gegenwart zusammenrücken. Seine authentifizierende, verbindungsstiftende Potenz wird vor allem dort ausgespielt, wo die Ortswahrnehmungen des Kriegsgefangen-Erzählers in gegenwärtige Lokalbeschreibungen eingeblendet oder diese durch ihn perspektiviert werden (z.B. S. 30 f.). Ob und inwiefern sich diese Wirkungen aber tatsächlich einlösen, hängt nicht unwesentlich an der Akzeptanz der unterschiedlichen Sprachregister von Erzähler und Erzählobjekt. Besonders diskrepant erscheinen diese dort, wo Radecke/Rauh Fontanes Schilderungen seines Gefangenenalltags zitieren und mit saloppen Formulierungen wie»ZitadellenWG«(S. 105),»morgendliches Fitnessprogramm« oder»Personal Trainer« (S. 106) paraphrasieren. – Inwiefern diese ›modernisierenden‹ Übertragungen den Geschmack des(ja nicht notwendigerweise jungen) Fontane-Publi-
Heft
(2021) 111
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