Heft 
(2021) 111
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»Kriegsgefangen« Brosig 193 vom Wanderungen-Autor selbst inspiriert. Überdies hat es Robert Rauh schon in vergleichbaren publikumswirksamen Büchern zum Wanderun­gen-Komplex erprobt. 7 Gegründet auf ambulanter Geschichts- und Notiz­buch-Forschung, auf gegenwärtiger Ortsbesichtigung und unterhaltsamer Erzählung, hat es in der Fontane-Literatur zwar schon Platz, aber noch kaum Begriff: Science- oder Histotainment? Popularisierte Literaturfor­schung oder lokale Literaturgeschichte als kriminalistische»Fall«-Erzäh­lung? Anstelle von Schlagwörtern seien hier einige Verfahren und Darstel­lungsmittel benannt, mit denen Radecke und Rauh Fontanes Kriegsgefan­genschaft inszenieren und den Leser zum teilnehmenden Beobachter ihrer Recherchen machen. Zum Repertoire gehört ein auktorialer Erzähler mit Kommentar- und Regiefunktion, der vor allem unterschiedliche Zeiten, Orte und Ereignisse vermittelt. Hinzu kommen Spannung und Atmosphäre erzeugende Zwischenüberschriften(»Wellen in Warnemünde«, S. 13;»Wel­che Illusionen!«, S. 49;»Emilie toll, Fontane im Rollstuhl«, S. 136), Vorgriffe und Cliffhanger(»Der Schicksalstag nahm seinen Lauf.«, S. 24) sowie szeni­sche Vergegenwärtigungen von Schauplätzen, Situationen oder Gesprä­chen. Die Evidenz von Fontanes Geschichte verstärken zudem zahlreiche Illustrationen, die wie im Falle des bei Fontanes Verhaftung konfiszierten Revolvermodells oder häufig eingeblendeter Notizbuch-Eintragungen Au­thentizität vermitteln und Aufmerksamkeit erzeugen(S. 25, z.B. S. 19). Ähnliche, aber weitreichendere Wirkungen resultieren aus der Autop­sie der französischen Originalschauplätze. Wie bei der»Spurensuche in der Zitadelle« von Besançon(S. 54) ist der Leser dabei nicht nur Empfänger von Forschungsergebnissen. Vielmehr machen ihn Radecke und Rauh zum Zeu­gen jener Aufklärungsarbeiten, die in der Erzählgegenwart noch andauern (S. 54–58, vgl. dazu auch S. 83–84). Die Effekte dieser»Tatort«-Besichtigun­gen gehen über die konkreten Ermittlungsziele hinaus und sind durchaus ambivalent: Einerseits wirkt der Schauplatz als Brücke zu Fontanes Ge­schichte und als ihr Bürge: Er beglaubigt die Hafterzählung und lässt Ver­gangenheit und Gegenwart zusammenrücken. Seine authentifizierende, verbindungsstiftende Potenz wird vor allem dort ausgespielt, wo die Orts­wahrnehmungen des Kriegsgefangen-Erzählers in gegenwärtige Lokalbe­schreibungen eingeblendet oder diese durch ihn perspektiviert werden (z.B. S. 30 f.). Ob und inwiefern sich diese Wirkungen aber tatsächlich ein­lösen, hängt nicht unwesentlich an der Akzeptanz der unterschiedlichen Sprachregister von Erzähler und Erzählobjekt. Besonders diskrepant er­scheinen diese dort, wo Radecke/Rauh Fontanes Schilderungen seines Ge­fangenenalltags zitieren und mit saloppen Formulierungen wie»Zitadellen­WG«(S. 105),»morgendliches Fitnessprogramm« oder»Personal Trainer« (S. 106) paraphrasieren. Inwiefern diese ›modernisierenden‹ Übertragun­gen den Geschmack des(ja nicht notwendigerweise jungen) Fontane-Publi-