Heft 
(2021) 111
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198 Fontane Blätter 111 Rezensionen Heterogenität und Widersprüchlichkeit der einzelnen Teile nicht mehr an­merkt. In dieser Weise kreierte Fontane, wie Petra McGillen überzeugend darlegt, durch sampling und media crossing von Genrebildern, human interest stories, von typisierten, sozial lesbaren Figuren und ihren Sprech­stilen, von Dialogsequenzen und medial vermittelten scheinbaren»O-Tö­nen« den Eindruck der»Lebenswirklichkeit«, des Individuellen und Origi­nellen. Lesen, Sammeln, Mischen In zwei großen Kapiteln untersucht die Studie Fontanes Arbeitsmethode im Detail, und zwar aus dem Blickwinkel des input(Kapitel III) und des output (Kapitel IV). Für den input sind zwei Faktoren ausschlaggebend: erstens Fontanes lebendes Archiv, ein dynamisches, immer weiter wachsendes Re­positorium, das es ihm mithilfe einer flexiblen, leicht veränderbaren Orga­nisation in Notizbüchern, Konvoluten, Mappen und Kästen erlaubte, hete­rogenes Material zu sammeln, zu verarbeiten und daraus Texte herzustellen, die alternativ oder zeitlich aufeinander folgend als einzelne Zeitungs- bzw. Zeitschriftenartikel, zusammengefügt zu Serien und/oder zu Büchern pub­liziert werden konnten. In einer Kreislaufbewegung wanderten verwendete Materialien wieder ins Archiv zurück, um in einem neuen Prozess in einen anderen Kontext eingefügt, also recycelt zu werden etwa eine Episode aus den Wanderungen in einem Roman, so dass die Grenzen zwischen»Stoff« und»Text« reversibel und fließend werden. Eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau dieser Sammlung war Fontanes Technik des brutal(oder discontinuous) reading, eines mehr auf Produktion als auf Rezeption ausge­richteten Lesens in Passagen und snippets, ohne Vollständigkeitsanspruch und ohne Berücksichtigung des Kontexts. Das Nebeneinander des in Inhalt, Form, Niveau und Status Unterschiedlichen begünstigt Assoziationen, die Entstehung neuer(intertextueller) Verbindungen und damit eine Poetik der Rekombination. Der zweite wichtige Faktor für den Aufbau des Archivs war Fontanes Netzwerk, bestehend aus einigen strong und zahlreichen weak ties, das ihn, im Schneeballsystem ebenfalls stets weiter anwachsend, im persönlichen Kontakt oder auf brieflich-postalischem Weg mit Informa­tionen, Büchern und Kontakten versorgte und zugleich eine Verbindung zu seiner Leserschaft herstellte. Erläutert wird das Funktionieren dieser bei­den Instrumente hauptsächlich an den Wanderungen durch die Mark Bran­denburg, die sich so zum einen als ein Ergebnis von crowdsourcing, zum anderen als material-generating apparatus(S. 125) darstellen. Freilich hatte dieses lebende Archiv, das maximale Assoziativität und damit Produktivität ermöglichte, auch einen gravierenden Nachteil: Das Fehlen übergeordneter Ordnungsprinzipien und einer permanenten Syste-