McGillen: The Fontane Workshop Hehle 199 matik erschwerte das Wiederfinden einzelner Elemente und damit auch die Arbeit an einem geordneten Nachlass. Das um 1890 verfolgte Projekt einer Gesamtausgabe kam nicht über Anfänge hinaus, und anders als etwa Goethe oder Raabe setzte Fontane sich nie zur Ruhe oder legte eine Produktionspause ein, um sich seinem Nachlass zu widmen, sondern delegierte diese Aufgabe testamentarisch an eine»Nachlass-Kommission« – mit den bekannten Folgen. Das Kapitel Generating Output analysiert Fontanes(literarischen) Schreibprozess. Im Rückgriff auf E. A. Poes Philosophy of Composition bestimmt es als Ausgangspunkt des literarischen Schreibens einen angestrebten ästhetischen Effekt, in Fontanes Fall die Illusion gesellschaftlicher Realität, die durch Überlagerung unterschiedlicher Elemente erzeugt wird. Diese Überblendung bringt komplexe Texte hervor, die – gleich dem medialen Umfeld, in dem Fontanes Romane und Erzählungen sich bewegen, nämlich den Kultur- und Familienzeitschriften – sowohl primär an Unterhaltung interessierten Lesern gefallen als auch jene ansprechen, die ihr Vergnügen an anspruchsvollen ästhetischen Effekten, an Polyphonie, Ironie und Selbstreflexivität haben. Indem sie Fontanes paper tools als interfaces versteht, die die Schnittstelle zwischen Fontanes Archiv, seinen Arbeitsmethoden, seinen Publikationszielen und dem literarischen Markt bilden, untersucht Petra McGillen drei hervorstechende Notationsformen, die besonders in Fontanes Notizbüchern immer wieder auftauchen: Listen, modulare Einträge( discrete bounded entries, voneinander getrennt durch horizontale Linien oder ausgeschnitten und dann in Werkmanuskripte eingefügt) sowie Zeichnungen ( sketches: Skizzen von Gegenständen, die als Platzhalter für eine genauere Beschreibung fungieren, und diagrams: topographische Skizzen, die der Orientierung, aber mitunter auch schon der Vorbereitung von Perspektivwechseln in Erzähltexten dienen). Diese Notationsformen funktionieren als Module und ermöglichen Strukturierung bei gleichzeitiger Offenheit; alle drei brechen die diskursive Ordnung der Schrift auf, indem sie graphische Elemente miteinbeziehen, und erlauben so ein Maximum an Rekombinationsmöglichkeiten.(Hier ist vielleicht der Punkt, eine Kritik anzubringen, die sich nicht an die Autorin, wohl aber an den Verlag richtet: Die durchweg schlechte Qualität der Abbildungen erschwert es, die Diskussion der Handschriftenbefunde nachzuvollziehen.) Worin der Nutzen dieser modularen Arbeitstechnik und seiner flexiblen Aufbewahrungsmethode für Fontanes Textproduktion und Publikationspraxis bestand, wird überzeugend dargelegt: Beides gestattete ihm, gleichzeitig an verschiedenen Projekten zu arbeiten und andererseits Projekte nach längeren Unterbrechungen wiederaufzunehmen, fortzusetzen und abzuschließen. Statt wie andere Autoren unter Zeitdruck Folge für Folge zu produzieren und dabei womöglich das große Ganze aus den Augen zu ver-
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(2021) 111
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