200 Fontane Blätter 111 Rezensionen lieren, pflegte Fontane einen ganzen Roman im first draft – oder Brouillon, mit seinem eigenen Ausdruck – niederzuschreiben. Das Brouillon lag dann »im Kasten«, bis sich eine geeignete Publikationsmöglichkeit fand. Erst dann – wenn also die Honorierung sichergestellt war – ging Fontane an die zeit- und arbeitsaufwendige Überarbeitung des Textes, und zwar nur jener Kapitel, die tatsächlich für die Publikation gebraucht wurden. Seine Arbeitstechnik bewahrte ihn mithin ebenso vor Ressourcenverschwendung wie vor einem ästhetischen Kontrollverlust. Den Übergang von den modular verwendeten Notaten und Textbausteinen zum kohärenten Textentwurf( draft) parallelisiert Petra McGillen mit dem non-linear editing der digitalen Videoproduktion: Vorhandene Clips werden frei arrangiert, ohne einer sequentiellen Ordnung zu folgen, und bleiben im so entstandenen Video direkt zugänglich. Fontane pflegte, so Petra McGillen, einzelne Szenen oder Kapitel auszuarbeiten, und dies nicht zwingend in der Reihenfolge, die der erzählerische Plot vorgab. So blieben die Elemente weiterhin verschiebbar und der Autor flexibel. Im späteren Prozess der Revision geschriebener Szenen trat Fontane dann mit sich selbst in Dialog, wie an den oft in anderer Farbe notierten Anmerkungen und»Direktiven« zu sehen ist, die sich in seinen Werkhandschriften häufig finden: Fontane-the-reader liest hier seinen eigenen Text und gibt Fontanethe-compiler Anweisungen für die Überarbeitung, um den gewünschten ästhetischen bzw. Unterhaltungseffekt(meist beide zugleich) zu erzielen. Auch die genaue Kenntnis seiner Leserschaft war offenbar eine von Fontanes unique selling positions, deren Bedeutung ihm bewusst war: Im Revisionsprozess nahm er seinen eigenen Text wahr, wie eine Zeitschriftenabonnentin ihn lesen würde, verkörperte also sein Zielpublikum. Und der Psychograph? Aus der Analyse von Fontanes Arbeitstechnik und-materialien und seiner Interaktion mit der medialen Welt, die ihn umgab, entsteht das Bild eines »anorganischen«(S. 256) – d.h. hochbewussten und modular, nicht linear verlaufenden – kreativen Prozesses, dem nichts»Natürliches«,»Geheimnisvolles« eignet(vgl. S. 117). Ein Bild, das sehr(post-)modern anmutet und in eklatantem Widerspruch zur traditionellen Autor-Imago steht, auf die auch Fontane sich in Wort und Bild berief. Seine in verschiedenen Varianten überlieferte Aussage, dass in seinem kreativen Prozess ein Element des Unbewussten –»Psychographie«, ein»traumhafter Zustand«(vgl. S. 179) – eine Rolle spiele, wäre also nichts als zeitgemäße Selbststilisierung? Der Punkt, auf den diese Frage abzielt, scheint mir(als einer der ganz wenigen) in Petra McGillens Buch unterbelichtet zu bleiben: Wie entsteht aus flexibel verfügbaren Modulen verschiedenster Art, aus Zeitungsausschnitten, Dialogse
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(2021) 111
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