Heft 
(2021) 112
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Fontane im Felde  Becker 25 übte so starben die Soldaten scharenweise an der Cholera, weil es an me­dizinischer Ausrüstung und Sanitätspersonal fehlte, hing damit zusam­men, dass die Times zu dieser Zeit aus ganz anderen Gründen eine Fehde mit der Regierung austrug und diese mit einer Negativberichterstattung von der Krim unter Druck setzen wollte. 10 Ohne einen solchen Rückhalt aus Lon­don hätte Russell den unvermeidlichen Konflikt mit den Verantwortlichen vor Ort nicht durchstehen können. So aber wurde er für die folgenden Jahr­zehnte zur Symbolfigur für eine unabhängige, ja kritische Kriegsberichter­stattung in Europa und auch in anderen Weltregionen: Russell schrieb 1857 Reportagen von der»Indian Mutiny« und 1861–65 aus dem Amerikani­schen Bürgerkrieg. 11 Als 1864 in Schleswig-Holstein und Dänemark der ers­te der sogenannten Deutschen Einigungskriege ausgefochten wurde, war der zivile Berichterstatter in den Gefechtsräumen also bereits eine relativ vertraute Erscheinung geworden. 2.2 Augenzeugenschaft als Gebot Der zweite der oben genannten Punkte, die Berufung auf Augenzeugen­schaft bei den Kriegsberichterstattern, ist von ebenso großer Bedeutung. Wenn die Presse ihren Anspruch ernstnahm, die Leserschaft zuverlässig zu informieren, durfte sie vor allem jenen Gerüchten und gezielten Fehlinfor­mationen nicht aufsitzen, die in Kriegszeiten stets rege Verbreitung finden. Das beste ›Gegenmittel‹ war hier die Präsenz eines glaubwürdigen Repor­ters vor Ort, der aufschrieb, was er selbst beobachtete oder im Gespräch mit den Akteuren in Erfahrung brachte. Dabei sorgte die Vielzahl der Inter­views dafür, dass die Aussagen abgeglichen werden konnten, um eventuel­len Fehlern oder Beschönigungen auf die Spur zu kommen. Die Augenzeugenschaft sollte also die Zuverlässigkeit der Berichterstat­tung in den Zeitungen und Zeitschriften sichern, die generell ein hohes Gut war, wenn es um die Bindung der Leserschaft ging. Darüber hinaus ist das Gebot des Dabei-gewesen-Seins aber auch im Kontext allgemeiner Trends der Zeit zu sehen. In den Künsten regierte das Programm des Realismus, das Wirklichkeitsnähe und sachliche Richtigkeit der Darstellung für unabding­bar erklärte; man denke nur an Schriftsteller wie Gustave Flaubert, der zu jeder kleinsten Schilderung seiner Gesellschaftsromane umfangreiche Re­cherchen anstellte, um sich nicht einmal bei unbedeutendsten Details Fehler vorwerfen lassen zu müssen. 12 In zugespitzter Form waren realistischer An­spruch und Augenzeugenschaft beim beliebten Genre des Reiseberichts miteinander verknüpft. Auch wer einen Kriegsschauplatz bereiste und da­von berichtete, bewegte sich wohl oder übel im Genre des Reiseberichts, zu dem sich die vielen kleinen Artikel gleichsam ergänzten; nicht von ungefähr veröffentlichten viele Kriegsberichterstatter nach dem Ende der von ihnen