38 Fontane Blätter 112 Dossier. Fortsetzung man sich so den Anschein geben, als berichte man abwägend, ausgewogen und insofern unparteiisch, als man bei der Rekonstruktion eines Sachverhalts dem überkommenen(presse-)rechtlichen Grundsatz des»Audiatur et altera pars« 5 folgte. Bewertung beruht wie Meinungsbildung auf einem Prozess, den das Organ visibilisierte – so die Idee. Je höher aber die Ansprüche ans Programm, umso größer der Aufwand, der für die Vorbereitung einer Nummer betrieben werden musste. Daraus resultierte die ganz eigene Geschwindigkeit der Gartenlaube, die das Familienblatt gern auch in Abgrenzung zu anderen Organen herausstellte. Diese berichteten zwar zeitnäher, konnten der Gartenlaube – laut Selbstverlautbarung an einen Leser im Jahr 1866 – in qualitativer Hinsicht aber keinesfalls das Wasser reichen: Wiederholt erlauben wir uns, Sie und alle übrigen Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die Herstellung einer Nummer der Gartenlaube drei volle Wochen in Anspruch nimmt, wir also – was die Schnelligkeit anlangt – in Abbildungen und Text andern illustrirten Wochenblättern, deren Auflage in zwei Tagen gedruckt ist, weder Concurrenz bieten können noch wollen. Die Gartenlaube glaubt ihre Leser mehr durch Werth und Gediegenheit, als durch leichtfertig fabricirende Hastigkeit zu befriedigen. 6 Schon die Angabe des Herstellungszeitraums für eine Nummer(»drei volle Wochen«) legt nahe, dass das Heft der 29. Kalenderwoche des Jahres 1870 Texte publizierte, die auf mindestens zwei Wochen(meist sogar sehr viel länger) zurückliegende Sachverhalte rekurrierten. Heft Nr. 1870/29 eröffnet mit einem Offene[n] Rundschreiben an alle Deutsche: Das deutsche Krankenhaus in Konstantinopel war einem Flächenbrand zum Opfer gefallen; jetzt warb der ortsansässige»deutsche Wohlthätigkeitsverein« um Unterstützung für den Wiederaufbau:»So ging das deutsche Krankenhaus zu Grunde und mit ihm seine Leiter, seine Pfleger und seine Kranken. Es war nicht unser Krankenhaus, es war dein Krankenhaus, du deutsches Volk!« (In Konstantinopel, wohlgemerkt.) Ereignet hatte sich die Katastrophe den Angaben des Aufrufs zufolge am»Pfingstsonntage«, genauer am 5. Juni 1870, lag also bereits sechs Wochen zurück. 7 Solche Verzögerungen waren für die Publikationspolitik der Gartenlaube keinesfalls die Ausnahme – zumal in solchen Fällen, in denen das Familienblatt die Rolle einer Spendeneintreiberin übernahm und die Ernsthaftigkeit des Anliegens sowie das Ausmaß des Schadens überprüft werden mussten. Bedenkt man nun aber, mit welcher Wucht Ereignisse wie der Ausbruch eines Krieges den Alltag der Menschen ebenso wie ihren Gefühlshaushalt beeindrucken, wirkt das gern und viel gelesene Blatt auf einmal doch eher veraltet. Die unterhaltsam-belehrende Gartenlaube»für’s Haus und für die Familie«,»für Groß und Klein« 8 kredenzte letztlich nur kalten Kaffee. Mit Blick auf(falsche) Erwartungen an größtmögliche Tagesaktualität war dies
Heft
(2021) 112
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