Heft 
(2021) 112
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72 Fontane Blätter 112 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ­vermuten, dass Fon­tane hier ähn­lich vorgegangen war wie in dem gleichzei­tig enstandenen Scherenberg-Buch.»Ich er­hielt eine Fülle von Brief­material und that meine eigenen Erin­ne­run­gen hinzu«, heißt es zur Erläu­terung und fast schon entschuldigend in einem Brief an Paul Heyse, denn:»Hätte ich nicht aus der Er­in­ne­rung her­aus ge­schrie­ben, so hätt ichs über­haupt nicht schreiben kön­nen.« 28 Vor einer neuerlichen Lek­t­ üre von Scheren­bergs Epen habe er sich gehütet, weil»eine innere Stim­me« ihm gesagt habe:»›Liest Du das alles noch mal durch, so bist Du verloren, und er erst recht.« Diese Ah­nung hätte sich auch bestätigt, als er nach­träg­lich»noch mal scheu in seine Dichtungen hin­ein­ge­kuckt« habe.»Nicht zu lesen, trotzdem er et­was, ja viel­leicht viel von einem großen Dich­ter hatte und ein geist­reicher Mann war.« So lautete 1889, an Moritz Lazarus gerichtet, das letzte Wort Fontanes zu Scherenberg. Sollte er, was die»Poeten des Ber­liner Figaro« ang­ eht, zu einer ähnlichen Einschät­zung ge­langt sein, nämlich dass sie bei aller Be­ga­bung »doch mehr eine höchst in­teressante Zeit­er­schei­nung« waren als»er­quick­liche Dich­ter«? 29 Zu bedenken ist ferner, ob ihm, da er sich offenbar nicht auf ein Quellen­studium einlassen wollte, überhaupt genug Erinnerung zur Verfü­gung ge­standen hät­te, um anschaulich von den Perso­nen auf der eingangs zi­tier­ten Liste erzählen zu können. Gelesen hatte er sei­nerzeit zwar alles, was sie im Figaro ver­öffentlicht hatten, persönlich gekannt hatte der junge Fontane aber so gut wie keinen von ihnen. Obwohl meist nur wenig älter, gehörten sie doch einem and­ e­ren Milieu an. Einzelne, Zitelmann zum Bei­spiel oder Adami, sollte er spä­ter ken­nen­l­er­nen, im Regierungspresseamt bzw. bei der Kreuzzeitung, doch nur mit dem gleich­altrigen Her­mann Maron war er schon in den Jahren um 1840 befreundet gewesen. Die Privi­legie­rung von Erinnerung, der eigenen und der von anderswoher ein­geholten, ge­gen­über einer Werk­ana­ly­se musste Fontane von einem literatur­ge­schich­tlichen An­satz weg in Rich­tung Auto­b­­ io­gra­phie drängen. Wann und inwieweit ihm be­wusst geworden ist, dass ein sol­c­ hes Ver­fahren seinem We­sen und Zweck besser entsprach, sei da­hin­gestellt. Schließlich lag eine be­trächt­liche Zeit­spanne zwischen den beiden hier einschlägigen Phasen lebensgeschichtli­chen Schrei­bens. Ein un­mit­telbarer Kon­n­ ex zwi­schen der Er­fah­rung, die er Mitte der 1880er-Jahre mit»Figaro« und Sche­ren­berg ge­macht hatte, und dem an­dersartigen Zugriff in Meine Kin­der­jahre(1892–93) bzw. Von Zwan­zig bis Dreißig(1894–98) lässt sich zumindest nicht nachweisen. Nachdem Fontane seine Kinderjahre im Untertitel als»autobiographi­schen Roman« cha­rakteri­siert hatte, scheint er vorübergehend mit dem Ge­danken gespielt zu haben, die Fol­ge­zeit ebenfalls novellistisch zu behandeln. So jedenfalls suggeriert eine mit»Kunst- und Klatsch-Roman« überschrie­bene zweiseitige Skiz­ze von allerlei Details, die in einer»Schil­de­rung des Ber­li­ner Lebens von 1839 bis 59« vorkommen sollten. Dieser»Roman ohne Ten­denz, der nur bio­gra­phisch verfährt und Bilder und Er­leb­nisse giebt« 30 ,