72 Fontane Blätter 112 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte vermuten, dass Fontane hier ähnlich vorgegangen war wie in dem gleichzeitig enstandenen Scherenberg-Buch.»Ich erhielt eine Fülle von Briefmaterial und that meine eigenen Erinnerungen hinzu«, heißt es zur Erläuterung und fast schon entschuldigend in einem Brief an Paul Heyse, denn:»Hätte ich nicht aus der Erinnerung heraus geschrieben, so hätt’ ich’s überhaupt nicht schreiben können.« 28 Vor einer neuerlichen Lekt üre von Scherenbergs Epen habe er sich gehütet, weil»eine innere Stimme« ihm gesagt habe:»›Liest Du das alles noch mal durch, so bist Du verloren, und er erst recht.‹« Diese Ahnung hätte sich auch bestätigt, als er nachträglich»noch mal scheu in seine Dichtungen hineingekuckt« habe.»Nicht zu lesen, trotzdem er etwas, ja vielleicht viel von einem großen Dichter hatte und ein geistreicher Mann war.« So lautete 1889, an Moritz Lazarus gerichtet, das letzte Wort Fontanes zu Scherenberg. Sollte er, was die»Poeten des Berliner Figaro« ang eht, zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt sein, nämlich dass sie bei aller Begabung »doch mehr eine höchst interessante Zeiterscheinung« waren als»erquickliche Dichter«? 29 Zu bedenken ist ferner, ob ihm, da er sich offenbar nicht auf ein Quellenstudium einlassen wollte, überhaupt genug Erinnerung zur Verfügung gestanden hätte, um anschaulich von den Personen auf der eingangs zitierten Liste erzählen zu können. Gelesen hatte er seinerzeit zwar alles, was sie im Figaro veröffentlicht hatten, persönlich gekannt hatte der junge Fontane aber so gut wie keinen von ihnen. Obwohl meist nur wenig älter, gehörten sie doch einem and eren Milieu an. Einzelne, Zitelmann zum Beispiel oder Adami, sollte er später kennenlernen, im Regierungspresseamt bzw. bei der Kreuzzeitung, doch nur mit dem gleichaltrigen Hermann Maron war er schon in den Jahren um 1840 befreundet gewesen. Die Privilegierung von Erinnerung, der eigenen und der von anderswoher eingeholten, gegenüber einer Werkanalyse musste Fontane von einem literaturgeschichtlichen Ansatz weg in Richtung Autob iographie drängen. Wann und inwieweit ihm bewusst geworden ist, dass ein solc hes Verfahren seinem Wesen und Zweck besser entsprach, sei dahingestellt. Schließlich lag eine beträchtliche Zeitspanne zwischen den beiden hier einschlägigen Phasen lebensgeschichtlichen Schreibens. Ein unmittelbarer Konn ex zwischen der Erfahrung, die er Mitte der 1880er-Jahre mit»Figaro« und Scherenberg gemacht hatte, und dem andersartigen Zugriff in Meine Kinderjahre(1892–93) bzw. Von Zwanzig bis Dreißig(1894–98) lässt sich zumindest nicht nachweisen. Nachdem Fontane seine Kinderjahre im Untertitel als»autobiographischen Roman« charakterisiert hatte, scheint er vorübergehend mit dem Gedanken gespielt zu haben, die Folgezeit ebenfalls novellistisch zu behandeln. So jedenfalls suggeriert eine mit»Kunst- und Klatsch-Roman« überschriebene zweiseitige Skizze von allerlei Details, die in einer»Schilderung des Berliner Lebens von 1839 bis 59« vorkommen sollten. Dieser»Roman ohne Tendenz, der nur biographisch verfährt und Bilder und Erlebnisse giebt« 30 ,
Heft
(2021) 112
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