Heft 
(2021) 112
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Pekinger Fontane-Labor  Wu 171 sozialistischen China im 20. Jahrhundert(Teil 1.1 und 1.2). Dann unterneh­me ich den Versuch, neue Tendenzen und Ansätze der Rezeption seit der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik, also ab dem Jahr 1979, zu skiz­zieren(Teil 1.3). Schließlich wende ich mich speziell der literaturwissen­schaftlichen Beschäftigung mit Fontane zu(Teil 1.4) und schließe mit einer exemplarischen Lektüre des Romans Frau Jenny Treibel aus dem Pekinger Fontane-Labor(Teil 2) ab. 1.1 Fontane-Rezeption in der Bürgerlichen Republik China Die Bürgerliche Republik China wurde nach der Abdankung des letzten Kaisers im Jahr 1911 ins Leben gerufen. Nach der Niederlage im dritten Bürgerkrieg floh ihre Regierung, und sie wurde 1949 von der Volksrepublik China abgelöst. In der Zeit der Bürgerlichen Republik, also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde Fontanes Werk in China kaum wahrge­nommen. Fontanes Name kam nur in wenigen Transkriptionsvarianten von allgemeinen Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte vor. 6 Die ers­te chinesische Transkription von Fontanes Namen tauchte im Jahr 1923 auf, 7 fast zur gleichen Zeit, als Albert Einstein im Dezember 1922 während seines Japan-Besuchs eine Zwischenstation in Shanghai machte. Im Ver­gleich mit seinen zeitgenössischen Kollegen wie Theodor Storm, Gottfried Keller oder Conrad Ferdinand Meyer, deren Werke mehr oder weniger in den chinesischen Übersetzungen aus der Zeit der Bürgerlichen Republik vertreten waren, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, soweit die bisherigen Recherchen belegen, kein einziger Roman von Fontane ins Chinesische übertragen. Über die Gründe für diese Ignoranz lässt sich nur spekulieren. Doch Transfer- und Rezeptionsspuren verlaufen oft unsyste­matisch und richten sich nach zufälligen Faktoren, etwa individuellen wis­senschaftlichen Kontakten. Fontane war jedenfalls für die erst 1918 ge­gründete chinesische Germanistik jahrzehntelang Terra incognita. Dies änderte sich erst ab den 1950er-Jahren. Als ich 2001 zum Promovieren nach Deutschland kam, konnte ich das bereits mit dem Wunsch tun, meine Dis­sertation über Fontane zu schreiben. Es hat sich also sehr viel in diesen Jahren geändert. Doch werfen wir zunächst einen Blick zurück. 1.2 Fontane als Lyriker in China In der 1949 gegründeten Volksrepublik China war Fontane nicht nur als Romancier, sondern auch als Lyriker bekannt. Als»realistisch fortgeschrit­tener« Balladendichter hochgeschätzt, 8 tauchte er unter dem seltsam klin­genden chinesischen Namen»Taieduoer Fengtan«( 台俄多尔 · 丰坦 ) auf, eine