Heft 
(2021) 112
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Pekinger Fontane-Labor  Wu 175 ›Fontane und China‹ emanzipiert haben und Anspruch darauf erheben, Bei­träge zum weiten Feld der Fontane-Forschung insgesamt zu leisten. Auch dies ist ein allgemeinerer Trend der nicht-deutschen Germanistik: Während die frühe Befassung mit deutschen Texten zumeist einer thematischen oder rezeptionsorientierten Beziehung zu China zu verdanken ist, man etwa über die Erwähnungen Chinas bei Fontane oder die chinesische Rezeption Fon­tanes gearbeitet hat, wird bei fortschreitender Auseinandersetzung die For­schung ›kerngermanistischer‹ gestaltet. Chinabezüge sind folglich nicht mehr das Kriterium dafür, dass sich ein chinesischer Germanist mit einem deutschen Text literaturwissenschaftlich auseinandersetzt. 2. Frau Jenny Treibel. Eine exemplarische Lektüre aus dem Pekinger Fontane-Labor Um die aktuelle wissenschaftliche Fontane-Rezeption in China und die enge Verknüpfung zwischen der chinesischen Fontane-Philologie und der inter­nationalen Fontane-Forschung zu veranschaulichen, stelle ich im Folgenden eine neue Weise der Beleuchtung des kanonisierten Textes Frau Jenny ­Treibel oder» Wo sich Herz zum Herzen findt« vor. Die Deutung resultiert aus der mehrjährigen Beschäftigung mit Fontane sowie der Lektüre mittels ei­nes philologischen close-reading. Als ein wichtiges Schlüsselwort fungiert das Licht in Fontanes Romanen. Auch in unserem Jenny-Treibel-Seminar, das in diesem Sommersemester in Peking abgehalten wird, dienen die Lich­ter, die Fontane in seinen Text eingeflochten hat, als Ausgangspunkt der Text­exegese.»[B]ei Lichte besehen«(S. 70), 25 um mit einer im Roman wieder­holt auftauchenden Wendung zu sprechen, lässt sich etwa die berühmte Ein­gangsszene in Frau Jenny Treibel als Anspielung auf das poetologische Kon­zept des Romans verstehen. Es heißt dort nämlich: An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und dann in die Adlerstraße ein und hielt gleich danach vor einem, trotz seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im Uebrigen aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Oelfarbenan­strich wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit gegeben hatte, beinahe das Gegenteil. Im Fond des Wagens saßen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen, das sich der hell­und warmscheinenden Sonne zu freuen schien. Die links sitzende Dame von etwa Dreißig, augenscheinlich eine Erzieherin oder Gesellschafte­rin, öffnete, von ihrem Platz aus, zunächst den Wagenschlag, und war dann der anderen, mit Geschmack und Sorglichkeit gekleideten und trotz ihrer hohen Fünfzig noch sehr gut aussehenden Dame beim Aus­steigen behülflich. Gleich danach aber nahm die Gesellschafterin ihren