Heft 
(2021) 112
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176 Fontane Blätter 112 Labor Platz wieder ein, während die ältere Dame auf eine Vortreppe zuschritt und nach Passirung derselben in den Hausflur eintrat. Von diesem aus stieg sie, so schnell ihre Corpulenz es zuließ, eine Holzstiege mit abge­laufenen Stufen hinauf, unten von sehr wenig Licht, weiter oben aber von einer schweren Luft umgeben, die man füglich als eine Doppelluft be­zeichnen konnte. Gerade der Stelle gegenüber, wo die Treppe mündete, befand sich eine Entréethür mit Guckloch, und neben diesem ein grünes, knittriges Blechschild, darauf ›Professor Wilibald Schmidt‹ ziemlich un­deutlich zu lesen war.(S. 5, Hervorhebung X.W.) Inwiefern kann man hier von impliziten oder versteckten poetologischen Hinweisen Fontanes sprechen? Vordergründig handelt es sich um ein rea­listisches Szenario, das uns in medias res in die Handlung von Fontanes ­Roman einführt: Jenny Treibel, die titelgebende Hauptfigur, kommt mit ih­rer Gesellschafterin zurück an den Wohnort ihrer Jugendliebe Wilibald Schmidt. Bei dem 1892 erschienenen Roman Frau Jenny Treibel handelt es sich um den satirischsten Roman Fontanes. Während sich die Gesellschafts­kritik in den anderen großen Romanen des Berliner Autors meist dezent, indirekt und humoristisch äußert, wird in Frau Jenny Treibel von Beginn an die Diskrepanz zwischen Anspruch auf gesellschaftlichen Aufstieg, Besitz und Bildung kritisch und ›augenscheinlich‹ vor Augen gestellt. Einem auf­merksamen Leser fällt allerdings ins Auge: Die scheinbar realistische Be­schreibung bedient sich einer Reihe bewusst ausgewählter Requisten und pendelt dabei zwischen der Offenlegung, für die»ein zurückgeschlagener Landauer«, die»Front von nur fünf Fenstern«, die»hell und warm scheinen­de[] Sonne« sowie die Öffnung des»Wagenschlag[s]« durch die Erzieherin steht, und der Verschleierung, die durch den»Oelfarbenanstrich« und dem »mit Geschmack und Sorglichkeit« Gekleidetsein angedeutet wird. Während die ältere Fontane-Forschung vor allem den sozialkritisch­satirischen Blick gewürdigt hat, den Fontane hier in komödienhafter Form auf Berliner ›Aufsteiger‹ wirft, liest die jüngere Fontane-Forschung Frau Jenny Treibel als eine»verhinderte Tragödie«, wie Johannes Thiele 2015 in den Fontane Blättern einleuchtend ausgeführt hat. 26 Mittels einer»doppel­ten Optik« fokussiert Thiele auf die zahlreichen im Roman verstreuten in­tertextuellen Bezüge und kommt so zu dem Schluss, dass Fontane seinen Text mit einem intrikaten Subtext ausgestattet habe: Um diesen Subtext zu rekonstruieren, hat Thiele im Gefolge von Paul Irving Anderson und Hugo Aust zu untersuchen begonnen, wie Fontane eine über den naiven Oberflä­chenrealismus hinausgehende Bedeutungskommunikation etabliert: Im Text verstreute Signale und Indizien in der Erzähler- wie in der Figurenre­de veranlassen den aufmerksamen Leser demnach dazu, die in sich plausi­ble Oberflächendeutung durch einen tieferen Sinn zu ergänzen oder sogar zu konterkarieren. Dieser ›Subtext‹ ergibt sich aus dem Zusammenschluss der intertextuellen Anspielungen zu einem eigenen Bedeutungsnetzwerk,