Heft 
(2021) 112
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Pekinger Fontane-Labor  Wu 177 das sich wie ein ›verstecktes‹ Gewebe über den Text ziehen und zum Ober­flächensinn ins Verhältnis setzen lässt. Thiele identifiziert 61 verschiedene literarische Prätexte, auf die sich in Frau Jenny Treibel Allusionen finden lassen, vor allem handelt es sich dabei um Texte von Schiller, Goethe und Shakespeare. Hinzu treten Anspielun­gen auf antike und christliche Mythologien, auf Gemälde der Bildenden Kunst und auf zeitgenössische Debatten. Thiele stellt fest, dass diese An­spielungen zumeist aus einem ernsten Kontext stammen, im neuen Kontext aber komisiert werden. Eine zentrale Motivkonstante, auf die verschiedene Anspielungen wiederholt verweisen, macht Thiele für Frau Jenny Treibel dabei im Motiv des Ehebruchs und des vorehelichen Sexualkontakts aus. Immer wieder, so seine Beobachtungen, scheinen vor allem in der Figuren­rede von Wilibald Schmidt Bezüge zu antiken und literarischen Ehebruch­episoden hergestellt zu werden, ohne dass dieses Thema auf der Oberflä­chenstruktur des Romans eine offensichtliche Entsprechung fände. Denn in der geschilderten Handlung des Romans konzentriert sich alles auf zu­künftige Eheschließungen beziehungsweise auf die Verhinderung von Ehe­schließungen, nicht auf vor- oder außereheliche Kontakte. Warum aber ist Wilibald Schmidt so fixiert auf den Mythos um Klytemnästra, ihren Ehe­mann Agamemnon und ihren Geliebten Aigisthos? Immer wieder kommt Wilibald Schmidt in den Gesprächen mit seinen Freunden auf diesen My­thos zu sprechen, in dem es immerhin um einen Gattenmord, nämlich die Tötung des zurückgekehrten Agamemnon durch seine Frau und ihren Lieb­haber Aigisthos, geht. Wieso ist das so? Unser Pekinger Fontane-Labor hat im Sinne eines internationalen Dia­logs die philologisch archäologischen»Ausgrabungen«(S. 73), die Johan­nes Thiele begonnen hat, im Text Frau Jenny Treibel fortgesetzt. Konzen­triert haben wir uns dabei auf die im Text»von sehr wenig Licht«(S. 5) erhellte, im Haupttext scheinbar beiläufig angesprochene Beziehung zwi­schen Wilibald Schmidt und Jenny Treibel. Schmidts Interesse an Homers Figuren Ägisth und Klytämnestra scheint durch diese Beziehung motiviert zu sein. Der Roman steht nämlich im Zeichen der eingangs ausdrücklich signalisierten»Doppelluft«, die der Erzähler bei Jennys Mühe, die»Vor­treppe« zu passieren und in den»Hausflur«(S. 5) einzutreten, programma­tisch ankündigt. Im bildungsbürgerlichen Diskurs des Romans wird dies geschickt im Streit über die»Goldmasken«(S. 74) ausagiert, den unser Pro­fessor Wilibald Schmidt, Oberlehrer an einer höheren Mädchenschule, mit seinem Kollegen Distelkamp führt. Dabei geht es um die Goldmasken, die der Archäologe Heinrich Schliemann 1876 in Mykene gefunden hat. Es war unklar, wem die Masken gehörten; Schliemann vermutete, dass es sich we­gen ihrer Pracht um die Goldmasken eines wichtigen Königs, und zwar um keinen geringeren als um Agamemnon handeln musste. Doch dies war eine umstrittene Zuschreibung. Wilibald Schmidt bezieht gegenüber seinem