Heft 
(2021) 112
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178 Fontane Blätter 112 Labor Kollegen Distelkamp nun in diesem Streit Position und verteidigt bemer­kenswerter Weise die These, dass es sich um die Goldmasken von Klytäm­nestras Liebhaber Aigisthos handelt, der nach dem Mord an Agamemnon König in Mykene wird: Aegisth sei doch immerhin sieben Jahre lang Klytämnestras Gemahl gewesen, außerdem naher Anverwandter des Hauses, und wenn er, Schmidt, auch seinerseits zugeben müsse, daß der Mord Agamemnons einigermaßen gegen seine Aegisth-Hypothese spreche, so sei doch an­dererseits nicht zu vergessen, daß die ganze Mordaffaire mehr oder we­niger etwas Internes, sozusagen eine reine Familienangelegenheit, ge­wesen sei, wodurch die nach außen hin auf Volk und Staat berechnete Beisetzungs- und Ceremonialfrage nicht eigentlich berührt werden könne. Distelkamp schwieg und zog sich unter Lächeln aus der Debatte zurück.(S. 117f.) Während Thiele meint, dass sich Wilibald Schmidt über die Goldmasken mit Agamemnon identifiziert, liefert diese Passage Hinweise auf eine Iden­tifikation mit dem Ehebrecher Aigisthos. Wilibald insistiert darauf, dass auch der Liebhaber einen Anspruch auf Klytämnestra hat, nicht nur der gehörnte Ehemann Agamemnon. Der aufmerksame Leser muss sich fragen, was diese Verteidigung des Aigisthos wohl zu bedeuten hat. Wie wir wis­sen, war Wilibald vor dem Auftauchen Treibels mit Jenny verlobt, und er scheint auch zum Zeitpunkt des Erzählens wie Jenny selbst mit einer gewis­sen Sentimentalität auf diese Phase seines Lebens zurückzuschauen. Die Ehe der Treibels scheint zugleich nicht die Beste zu sein. So erlebt Jenny Treibel immer wieder Momente, in denen sie die Alternative, die sie in ihrer Jugend ausgeschlagen hat, wehmütig-sentimental erinnert; etwa wenn sie deren Verkörperung, nämlich ihrer Jugendliebe Wilibald Schmidt auf ei­nem Spaziergang gesteht: Oft, wenn ich nicht schlafen kann und mein Leben überdenke, wird es mir klar, daß das Glück, das anscheinend so viel für mich that, mich nicht die Wege geführt hat, die für mich paßten, und daß ich als Gattin eines in der Welt der Ideen und vor allem auch des Idealen stehenden Mannes wahrscheinlich glücklicher gewesen wäre.(S. 141) Folgt man der durch den intertextuellen Homer-Bezug ausgelegten Spur, so ließe sich Jennys Gatte und Familienvater Treibel als(komisiert-harmloser) König und Heerführer Agamemnon lesen, wobei sein politisches Engage­ment seine»Wahlfeldzüge«(S. 119) das Analogon zur antiken Kriegsfüh­rung bilden. In der Plauderei mit der Erzieherin seines Enkelkindes Lizzi zerbricht sich Treibel den Kopf über die Frage nach der Übereinstimmung bzw. Diskrepanz einer tadellosen Moral und eines tadellosen äußeren Ein­drucks: [...] man kann nie ganz genau wissen, wie diese Dinge liegen, und wenn es zum Letzten kommt, so ganz zweifelsohne vor seinem Richter zu ste-