Heft 
(2021) 112
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Pekinger Fontane-Labor  Wu 179 hen, wer sollte sich das nicht wünschen? Ich möchte beinah sagen, ich wünsch es mir selber. Aber, mein liebes Fräulein, Engel und Engel ist ein Unterschied, wenn der Engel weiter nichts ist als ein Wasch-Engel und die Fleckenlosigkeit der Seele nach dem Seifenconsum berechnet und die ganze Reinheit des werdenden Menschen auf die Weißheit seiner Strümpfe gestellt wird, so erfüllt mich dies mit einem leisen Grauen. (S. 127, Hervorhebung X.W.) Treibels ambivalente Gefühlslage und sein Räsonnement über Schuld und Unschuld legen eine weitere Spur in die Tiefenstruktur des Textes. Wer ist der»Wasch-Engel« bzw. der»[Z]weifel-[S]ohn[]«, der»die Fleckenlosigkeit der Seele nach dem Seifenconsum berechnet und die ganze Reinheit des werdenden Menschen auf die Weißheit seiner Strümpfe«(S. 127) stellt? Geht man von der Annahme aus, dass Jenny womöglich doch eine Affä­re mit Wilibald Schmidt hatte oder sogar hat, könnte auch Wilibalds Vertei­digung des Aigisthos Sinn ergeben. Wie Thiele aufgrund der intertextuel­len Bezüge vermutet, deutet Fontane de facto auch philologisch mehrfach im Subtext an, dass die Ehe der Treibels eine ménage à trois ist, sich ­Wilibald Schmidt also durchaus nicht allein auf eine voreheliche Liebe beschränkt hat, sondern darüber hinaus als Liebhaber Jennys aktiv war. Folgt man die­ser Spur weiter, ergibt sich der Verdacht, dass Jennys Intervention, die Lie­be und Ehe zwischen Leopold und Corinna zu verhindern, nicht nur im Wunsch sozialer Distinktion begründet liegt, sondern dieser Wunsch wo­möglich daraus resultiert, eine»reine Familienangelegenheit«, also einen Geschwisterinzest zu verhindern. Das eigentliche Sujet, also die»Sache« des Romans, läge dann darin, dass Leopold, Jennys Sohn, nicht vom Ehe­mann Treibel stammt, sondern aus der Liaison mit Wilibald hervorgegan­gen ist. Unter dieser Voraussetzung liest sich der gescheiterte Verlobungs­versuch der Halbgeschwister Corinna und Leopold wie ein gerade noch vermiedener Inzest-Skandal. Im Blick auf diese Neulektüre erweist sich das scheinbar realistische Erzählen von der»Passirung« der»Vortreppe« durch die Protagonistin sowie von der»Entréethür mit Guckloch«(S. 5) als eine metaphorische Anspielung auf die systematisch mit einer Tiefenstruktur versehene Romankonzeption. Mit der ausdrücklichen Bemerkung,»unten« sei»sehr wenig Licht«(S. 5), wird der Leser auf den schwer zu entschlüs­selnden Subtext hingewiesen. Der Text pendelt in der Folge zwischen den »abgelaufenen«(S. 5), überkommenen Klischees von Gattenwahl, Ehe­bruch und Mesalliance und den raffiniert organisierten Textspielen mit versteckten Identitäten und Rollen, die»ziemlich undeutlich zu lesen« sind, wie das an der»Entreethür«(S. 5) hängende Namensschild von Wilibald Schmidt, zu dem die Titelfigur bei seinem ersten Auftritt bereits bemerkt: »Mit Ihnen kommt immer das Licht.«(S. 14) Folgt man dieser Lesart, so verhandelt der ganze Roman ›theatralisch‹ also das große ›Stück‹ eines Ehebruchs-Skandals. Dieser wird nur ruchbar,