Heft 
(2021) 112
Einzelbild herunterladen

196 Fontane Blätter 112 Rezensionen über Kunst, Kunstgewerbe und Wohnungsausstattung den konservativen Geist der wilhelminischen Zeit vertreten, da Gurlitt der Auffassung war, dass eine Übertreibung der Fenstergröße ein Übermaß an Lichteinfall mit sich bringe, der, wie Sbarra schreibt,»die Trennung beeinträchtigt«(S. 12), welche doch die vornehmliche Funktion des Fensters sei. Dieser Fokussie­rung auf die trennende Funktion als Ausdruck bewahrender Gesinnung ste­he die revolutionäre Umdeutung gegenüber, die Paul Scheerbart(den Sbar­ra mehrfach nennt) einige Jahre später in seiner Glasarchitektur vornimmt, indem er dem Fenster und seiner Transparenz die Aufgabe zuteilt, den Ge­gensatz Innen-Außen vollständig aufzuheben. Das Offen- oder Geschlossensein des Fensters entspricht der Offen- oder Verschlossenheit der in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts erzählten Welt, in der dem Haus»mit seinen mannigfaltigen Ambivalenzen eine struk­turelle Zentralität und eine diegetische Rolle[zukommt], die es zum Konkur­renten der Protagonisten, zum Antagonisten oder Deuteragonisten macht. In seinem Verhältnis zur Innenwelt der Figuren und zur Welt jenseits der Türschwelle ist es der Schlussstein der narrativen Konstruktion und steht auf dem Schnittpunkte der entgegengesetzten Kräfte, die auf den Tod hin­zielen[...] oder, seltener, auf das Leben«(S. 29 f.). Die erstickend engen Räu­me, in denen sich bei Fontane und Raabe das Ich vor der Außenwelt ab­schließt, sind, so Sbarra, gekennzeichnet durch»starre Raumkoordinaten innerhalb einer Umgrenzung, in der das überbordende Leben in einem klaustrophobischen Projekt erlischt«(S. 17). Sbarras Studie macht semanti­sche Felder und Gegenfelder sichtbar, die den realen Topographien der un­tersuchten Werke zugrundeliegen, welche ein charakterisierendes Prinzip des späten Realismus erkennen lassen: Grenzen zu überschreiten, ist Geset­zesüberschreitung und wird zumeist mit Ausschluss oder gar dem Tode ge­ahndet, während der Fall selten ist, dass die Überschreitung der Grenze zu einer neuen Bestimmung derselben führt. Diesem Prinzip forscht Sbarra in fünf Kapiteln nach, von denen vier ana­lytisch und, in dieser Reihenfolge, Storm, Nietzsche, Fontane und Raabe ge­widmet sind. Nietzsche ist in dieser Studie überall präsent und wird hier durch akkurate Textvergleiche in einigen Passagen bei Fontane nachgewie­sen: Von grundlegender Bedeutung ist sein Aufbegehren gegen das Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das auch eine Kritik der Architektur und des Einrichtungsstils sowie der auf diesem Wege präten­dierten Werte einschließt. In der besonders dem späten Raabe ab dem Stopfkuchen(1891) gewid­meten Analyse scheinen Haus und Fenster in den Hintergrund zu treten; und doch können dessen exzentrische Figuren, die sich in geschlossenen Räumen, gleichsam Festungen, gegen die Welt abschließen, ohne weiteres als charakteristische Typen eines in sich selbst versenkten 19. Jahrhunderts