24 Fontane Blätter 113 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes ben. Und wenn alle zu Bett gegangen sind, gehen sie in das kleine Wohnzimmer, um sich am Ofen zu wärmen. Eines Tages wird der Baron von seiner Familie schließlich dazu gezwungen, ein junges reiches Fräulein zu heiraten. Er geht ein letztes Mal zu Madeleine. Die arme Kleine hatte schon seit langem mit dieser Trennung gerechnet. Bei ihrer letzten Landpartie war sie so glücklich gewesen, bis sie auf einmal ohne besonderen Anlass traurig wurde, weil sie natürlich schon ahnte, dass das Ende ihres Glücks nahte. Als es Zeit wird, Abschied zu nehmen, ist sie sehr tapfer und beschwört den jungen Mann, es sei vernünftig, dass er sie verlässt und versucht ihn so gut es geht zu trösten. Sie leidet jedoch sehr unter diesem Abschied. Ein Jahr später, als sie auf der Straße ihrem früheren Geliebten am Arm seiner jungen Frau begegnet, fällt sie beinahe in Ohnmacht. Aber das Leben geht weiter. Als noch ein Jahr vergeht und ein Fabrikmeister um ihre Hand anhält, willigt sie schnell ein. *** Stellen Sie sich vor, die Berliner Wäscherin wäre eine Näherin aus der Avenue de Saint-Ouen und der Baron von Rienäcker ein Student aus dem Quar tier Latin . Und dann stellen Sie sich vor, dass die beiden Turteltauben sich mehr mit ihrer Garderobe und ihren Hüten beschäftigen und weniger mit dem Mond, der – wie man weiß – eine wichtige Rolle im Leben der Deut schen spielt. Nach diesen minimalen Veränderungen, und nichts ist leichter als das, haben Sie das Modell eines naturalistischen Romans vor sich, wie er vor zehn Jahren in Frankreich geschrieben wurde. Wobei es sich nicht ganz um einen Zola -Roman handelt: Er ist sogar noch naturalistischer und Zolas Romantheorie noch angemessener. Unsere jungen Romanschriftsteller müssen solche Geschichten im Kopf gehabt haben, als sie von einem Besuch in Médan 23 zurückkehrten. Sämtliche Charaktere des naturalistischen Romans treten in dieser Erzählung Fontanes auf. Die Liebesgeschichte zwischen der Wäscherin und dem Baron ist genau das, was man mit Zola einen Ausschnitt aus dem Leben bezeichnen könnte. Wir sehen sie, ohne zu wissen, was ihnen zuvor widerfahren ist, und wir wissen fast nichts von dem, was folgt. Außerdem entspringen sie der Wirklichkeit, gewöhnlicher geht es kaum. Ein solches Liebesabenteuer wiederholt sich alle Tage; es gibt kein Detail, das unwahrscheinlich, außergewöhnlich oder besonders eigenartig ist. Und die Charaktere sind genauso einfach, gewöhnlich, alltäglich. Der junge Mann und die junge Frau sind nur ein bisschen sentimentaler als bei uns unter solchen Umständen, aber die Szene spielt sich in Berlin ab, und ich habe schon eingeräumt, dass man den Mond weglassen müsste. Die Form von Fontanes Romanen(in meiner Analyse konnte ich darauf nicht näher eingehen) ist in einem viel absoluteren Sinn naturalistisch als in jedem französischen Roman. Weder Champfleury in Les Bourgeois de Molinchart 24 noch Monsieur Céard in Une belle journée 25 haben eine vergleich-
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(2022) 113
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