Heft 
(2022) 113
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Fontane auf Französisch  D'Aprile, Lerenard 27 essieren, verlangen sie nicht von ihr, dass sie heldenhafte Gefühle oder ge­niale Gedanken in sich trägt. Die Wahrheit lautet sogar: Sie schenken der Intelligenz wenig Beachtung und betrachten diese als Quälgeist und Stör­faktor, als Quelle jeglicher Perversion und als einen leidigen Spielverderber für die glückshungrigen Seelen. Sie schätzen die Intelligenz wenig, dafür umso mehr die Zärtlichkeit die einfache Zärtlichkeit der einfachen Her­zen, die sie dazu befähigt zu lieben, nur um des reinen Vergnügens willen, das sie darin finden. Deshalb werfen sie auf das Personal ihrer Romane, seien es Arbeiter, Landleute, Bedienstete oder junge Frauen, das warme Licht ihrer Sympa­thie. Die Eigenschaften, die diesen Figuren fehlen, sind Eigenschaften, um die sie sich nicht im Geringsten kümmern. So lässt Fontane nur Durch­schnittsmenschen auftreten, mit banalen Gefühlen und unter alltäglichen Umständen. Aber er liebt sie, ihre Banalität rührt ihn sogar und er proji­ziert auf sie ein so sanftes, so gleichmäßiges Licht, dass auch die kleinsten Details in ihrem Verhalten uns mit einer so reizenden Klarheit erscheinen wie grüne Zweige im hellen Sonnenschein. *** Das hervorstechende Merkmal der Bücher Fontanes ist ihre innere Wärme. Es ist nicht die starke und strahlende Wärme wie jene in Dickens Romanen, sondern eine milde und sanfte Wärme, die Wärme eines Berliner Sommers. Fontane unterscheidet sich nicht nur dadurch von den französischen Natu­ralisten, dass er seine Figuren liebt. Während die französischen Naturalis­ten ihre Figuren hassen, weil sie zu sehr von ihrer Wirklichkeit überzeugt sind, erscheinen die seinen gerade dadurch als lebensnaher, weil er weder der Realität der Welt, die er beobachtet, noch der Realität des Bildes, das er malt, eine zu große Bedeutung beimisst. Nichts fehlt seinen Figuren, um wirklich zu sein: Mit ihren einfachen Gedanken und naiven Gefühlen er­scheinen sie in allen seinen Büchern als so mittelmäßig, wie wir sie auch im Leben sehen. Und dennoch sind sie keine realen Figuren: sie zeigen sich uns nicht direkt. Es gibt sozusagen einen Schleier zwischen ihnen und uns, der verhindert, dass uns ihre Banalität zu sehr abstößt. Fontane liebt seine Fi­guren, aber er vergisst nie, dass er sie erfindet und im Übrigen ohnehin die Dinge weniger wirklich sind als man annimmt. So kann er alles mit ei­ner heiteren Nachsicht betrachten fest entschlossen, sich über nichts zu ärgern. Ein ständiges wohlwollendes Lächeln scheint seinen Schreibstil zu durchdringen. Die Einfachheit seiner Erzählungen entspannt uns, ihre Genauigkeit amüsiert uns wie das kleinste Detail eines Ammenmärchens, und der Rea­lismus und die Immoralität der Themen können uns nicht beleidigen. Wir empfinden zu sehr, dass jene Geschichten nicht ganz wirklich sind und dass wir im Irrtum wären, wenn wir uns deswegen quälen würden. ***