Heft 
(2022) 113
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28 Fontane Blätter 113 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Ich erhebe nicht den Anspruch zu erklären, woher diese kostbaren Eigen­schaften von Fontanes Romanen kommen. Ich fürchte ohnehin, dass ich in diesen hastig hingeworfenen Notizen zu viel erklären wollte, obwohl ich mich mit ein paar knappen Informationen hätte begnügen sollen. Es scheint mir jedoch, dass diese besonderen Qualitäten darin ihre Ursache haben, dass Fontane schon ein Dichter war, bevor er mit über sechzig Jahren be­gann Romane zu schreiben. Ein altes Mitglied der Académie française hat Chateaubriand dazu gra­tuliert, dass er»alle beide Instrumente besitze« er meinte die Prosa und die Poesie. Die Wahrheit ist aber, dass man, um diese beiden Instrumente zu besitzen, vor allem über das letztere verfügen können muss. Die Prosa eines Dichters ist immer eine schöne Prosa. Die Erfahrung im Dichten ver­leiht nicht nur eine Achtung für die Form, den Geschmack, die Genauigkeit und die Geschicklichkeit in der Wahl der Bilder. Sie hilft auch dabei, die einfachsten Dinge hervorzuheben, sie färbt mit tausend feinen Nuancen die tägliche Beobachtung des Lebens. So gibt es in Fontanes Romanen eine verborgene Poesie, die sie über jeden anderen naturalistischen Roman er­heben. Darüber hinaus handelt es sich hier um die Romane eines sechzigjähri­gen Dichters, der viel erlebt hat, der viel gereist ist, der die tragischsten Ereignisse hautnah erfahren hat und der seit langem weiß, wie man die Wichtigkeit von Menschen und Dingen einzuschätzen hat. Nichts schützt uns besser davor, das Leben zu ernst zu nehmen als ein langes und erfah­rungsreiches Leben. Als er damit anfing, die Sitten der Wäscherinnen und Gemüsegärtner zu beschreiben, hatte Fontane sie schon lange beobachtet. Und er hatte gelernt, sie mit diesem nachsichtigen Lächeln zu beurteilen, das seinen Stil so bemerkenswert macht. Deshalb nehmen seine Romane eine besondere Stellung innerhalb des naturalistischen Genres ein. Sie besitzen die ganze Frische der Bücher ei­nes Anfängers und die ganze Erfahrung und das ganze Wohlwollen der Bücher eines erfahrenen Schriftstellers. Es sind glaube ich die einzigen Romane, in denen keine Figur auftaucht, die nicht gut und liebenswert ist. Die härtesten Handlungen werden darin so natürlich geschildert, dass man sie nur für gut befinden kann. Man akzeptiert ohne jeden Vorwurf, dass die Heldin in LAdultera ihren Ehemann verlässt, der doch ein guter Mensch ist. Man versteht, dass der Baron von Rienäcker sich von Madeleine trennen muss, die er liebt und den sie liebt. Und als der alte Graf seine Geliebte ulti­mativ auffordert, sich in aller Deutlichkeit einer Hochzeit zwischen Stine und seinem Neffen entgegenzustellen, hat jeder Leser das Gefühl, dass er selbst in einer ähnlichen Situation genauso gehandelt hätte. Diese allumfassende Nachsicht könnte kindisch wirken. Ich hingegen gebe zu, dass sie mich unendlich berührt, und dass mir genau deshalb Fontanes Romane so lieb und teuer sind. Möglicherweise fehlt ihnen das