68 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Eine weitere Gruppe schließlich umfasst Transformationen der dem realistischen und frühmodernen Schreiben jeweils zugrundeliegenden Konzeptionen von ›Realität‹. Hier favorisiert der poetische Realismus konsensfähige, sozial objektivierbare Realitätskonzepte, während diese im Literatursystem der Frühen Moderne aus einer subjektiven Perspektive erfolgen. Daher wird Realität im Literatursystem des poetischen Realismus in solchen Redeakten hergestellt, die sich als Re konstruktionen von Realität verstehen. Dagegen wiederum erzählt die Literatur der Frühen Moderne Realität als Akt ihrer Konstruktion, wird also allererst im Erzählprozess hergestellt. Daraus wiederum ergeben sich auch Unterschiede hinsichtlich der Prozesshaftigkeit. Im Realismus ist die Rekonstruktion von Realität ein Prozess, der immer schon zu Ende geht, in der Frühen Moderne ist die Konstruktion von Realität(en) ein Prozess, der neue Möglichkeiten schafft. Daher eröffnen Sterben und Tod im Literatursystem der Frühen Moderne Zukunftspotenziale, während das Literatursystem des Realismus das Sterben bzw. den Tod als Verluste ansieht. Dementsprechend werden mit dem Thema ›Tod‹ rückblickend Möglichkeiten aufgezeigt, die der Tote im Leben gehabt hätte. 17 Alle diese Strukturelemente, mit denen sich analytisch auf konkrete Texte zugreifen lässt, führen – so Wünsch – für die Moderne nichts ein, was von vornherein außerhalb der Denkhorizonte des Realismus gelegen hätte. 18 Zu fragen ist im Folgenden daher, ob und wie Fontanes Rekurse auf Ernst Wicherts Boulevardstücke dazu dienen können, einzelne Strukturen – wie sie Wünsch als typisch für die Frühe Moderne charakterisiert hat – innerhalb der Literatur des Realismus verfügbar zu machen. Damit wird das Genre des Boulevardstücks zu einem Medium, dessen sich die avancierte Kunst-Literatur des Realismus bedient. 19 III. Als Nachfolger des klassischen Charakter-Interaktionsdramas sind die Stücke des Boulevardtheaters darauf angelegt, Handlungen plausibel aus einem Set von Merkmalen wie ›treu/nicht treu‹, ›ehrlich/nicht ehrlich‹, ›Herz/ kein Herz‹, ›Kalkül/kein Kalkül‹ zu generieren, wobei Ver- und Entlarvungen für Spannung und zugleich komische Effekte sorgen. Diese Qui pro quo-Struktur bringt es mit sich, dass sowohl einzelne Figuren über ihre eigene Psyche und das daraus resultierende Handeln reflektieren müssen als auch, dass die jeweils anderen Figuren ebenfalls solche Überlegungen anstellen und sie auf dem Weg über wiederum psychische Kalküle in Handlungen umsetzen. Genau das ist – im und mit dem Ansatz von Marianne Wünsch weitergedacht – diejenige Psychologisierung der Figuren, die der an Werten und Normen orientierte poetische Realismus zwar kennt, sie aber nicht so direkt wie Boulevardstücke ins Spiel bringen kann. Weiter kommen die für das Literatursystem des Realismus so wichtigen Normen und Werte zwar auch in den Stücken Ernst Wicherts vor, aber nicht
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(2022) 113
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