Fontane und das Boulevardtheater Parr 67 und hinsichtlich seiner distinkten Position im literarischen Feld des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts selbst allzu populär zu machen. In Umkehr der Perspektive geht es dann in einem zweiten Teil darum, aufzuzeigen, was verändert werden muss, wenn Elemente eines Boulevardstücks in einen Roman Fontanes transformiert werden, konkret die Konfiguration von Wicherts Lustspiel Die Realisten 8 in Fontanes Frau Jenny Treibel. 9 II. Damit genauer aufgezeigt werden kann, was der Romancier Fontane durch die Rekurse auf Boulevardstücke gewinnen kann, müssen zunächst noch einmal die Basisoptionen des poetischen Realismus rekapituliert werden, über die mittels der Zitate aus und der Anspielungen auf Boulevardstücke punktuell hinausgegangen wird. Dazu wird im Folgenden auf eine Reihe von Analysen zurückgegriffen, in denen Marianne Wünsch die Charakteristika des Literatursystems ›Realismus‹ in Abgrenzung zur Frühen Moderne herausgearbeitet hat. 10 Dominant im Realismus ist für Wünsch zunächst die Darstellung solcher Einstellungen und Verhaltensweisen von Figuren,»die im kulturellen Wissen als normal gelten dürfen und infolgedessen scheinbar nicht erklärungsbedürftig sind«. 11 Sie sind»Applikationen ideologischer Einstellungen« und motivieren»sich nicht aus Psychologie, sondern aus« eben der»Logik der Wert- und Normensysteme«. 12 Damit geht es»dieser Literatur nicht um die Integration« eines»denkbaren Unbewussten, sondern vielmehr um dessen Ausgrenzung«. 13 Sollen innerhalb der Konzeption des poetischen Realismus dennoch psychologische Elemente thematisiert werden, so bedarf es eines literarischen Verfahrens, das dieses Psychologische integrieren, es aber zugleich auch als etwas vom realistischen Schreiben Unterschiedenes markieren kann. Im Detail zeigt Wünsch in ihrer Abgrenzung des späten Realismus von der Frühen Moderne Gruppen von Transformationen auf, die den Übergang zwischen diesen beiden Literatursystemen charakterisieren. 14 Eine dieser Gruppen von»Transformationen betrifft den Komplex der Werte und Normen« selbst. 15 Im Realismus ziehen Normverstöße Sanktionen nach sich, während sie für die Literatur der Moderne geradezu konstitutiv sind und die literarischen Figuren überhaupt erst interessant machen. Sichtbar wird dies etwa in der Neukonzeption eines Lebensbereichs wie dem der Erotik und Sexualität sowie der mit beiden wiederum verbundenen Normen. Weiter findet eine Transformation der Einstellungen zu und der Bewertungen von Sterben und Tod statt. Denn wird im Realismus mit dem Tod Vergangenheit thematisiert und tangiert das Sterben die Werte und Normen nicht, so werden in der Frühen Moderne mit dem Sterben Werte und Normen infrage gestellt; der Tod selbst dient dort der Thematisierung von Zukunftsperspektiven. 16
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(2022) 113
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