Heft 
(2022) 113
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Fontane und das Boulevardtheater  Parr 71 Jürgen Link und Ursula Link-Heer 30 als»Applikationen« 31 verstanden stel­len so etwas wie kleine Bühnen innerhalb der übergeordneten Rahmung des Romans dar, was die nötige Distanz zwischen beiden schafft. Auf diese Weise wird es allererst möglich, Inhalt und Form der Bezugnahmen auf das Theater mit der Poetik des Realismus nicht nur zu konfrontieren, sondern auch zu kombinieren. Insofern hat man es mit einer Rahmung auf zwei Ebe­nen zu tun, einer gattungsspezifischen(Roman versus Lustspiel) und zu­gleich einer poetologischen(›poetischer Realismus‹ versus mit der hier abgewandelten Formulierung aus der Theaterkritik ›naiver Idealismus‹). V. Was die pure Textmenge betrifft, ist das, was Fontane in Effi Briest aus Wi­cherts Ein Schritt vom Wege appliziert, nicht viel. Zunächst ist es nämlich nur der bloße Titel des Stücks, der ins Spiel gebracht wird, damit aber für die das Stück kennenden zeitgenössischen Leserinnen und Leser Fontanes durchaus bereits schon sein ganzer Inhalt. Hinzu kommt die Besetzung der Rolle der»Ella« mit Effi: Nach einem Crampasschen Plane nämlich sollte noch vor Weihnachten »Ein Schritt vom Wege« aufgeführt werden, und als man vor dem drit­ten italienischen Abend stand, nahm Gieshübler die Gelegenheit wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella spielen sollte, darüber zu sprechen. 32 Die»Ella« aus Wicherts Stück wird damit auf die»Effi«-Figur in Fontanes Roman appliziert, was nichts anderes heißt, als dass mit der bloßen Nen­nung des Namens»Ella« ein komplexes Charakterbild aufgerufen und zum Vergleich mit Effi angeboten wird. Möglich wird dies durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die beide Figuren haben. 33 Ella von Schmettwitz ist eine junge, von ihrem Verlobten gern mit»Kind« angesprochene Frau, die der zusammen unternommenen Bildungsreise auf ausgetretenen touristischen Pfaden überdrüssig geworden ist und stattdessen»voll poetisch-abenteuer­lichem Verlangen nach einem ›Schritt vom Wege‹« 34 ein romantisches Aben­teuer sucht: Arthur: Das flotte Leben muss doch einmal aufhören. Ella: Und bei mir solls gar nicht anfangen. Aus dem kindischen Mädchen hat gleich eine verständige Frau werden sollen. Wie anders hab ich mirs gedacht! Auf dieser Reise schon. Und immer so spießbürgerlich fort auf der großen langweiligen Heerstraße aller Reisenden mit dem Bädeker in der Hand, immer dieselben blasirten Reisegesichter heute und morgen; und rechts und links ists so schön, überall wo man nicht sein kann. Und nun morgen zu Hause und eigentlich nichts erlebt! 35 Auf der einen Seite also eine lebenslustige junge Frau, die etwas Romanti­sches erleben will, auf der anderen Seite ein deutlich älterer Mann, der auch auf der gemeinsamen Reise an die Bewirtschaftung seiner Güter denkt und ein touristisches Highlight nach dem anderen abarbeitet. Damit ist über die