Heft 
(2022) 113
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Fontane und das Boulevardtheater  Parr 75 gründung und damit auch nach Erfüllung des alten Einheits-Ideals als immer noch idealistisch gesinnter Deutscher in die Familie seines Bruders, des Fabrikanten Franz Werwein, zurück, um dort als ›1870/71er‹ in einer Zeit zu fungieren, in der die ideal-nationale Begeisterung bereits deutlich abge­flaut ist. Was er jedoch statt des erwarteten romantisch-idealen Deutsch­ lands vorfindet, ist ein realpolitisch-realistisches. Robert, Sohn des Fabri­kanten Werwein, strebt eine preußische Beamtenkarriere an, ist aber finanziell nicht in der Lage, den dafür nötigen gesellschaftlichen Aufwand zu betreiben. Er löst daher das bestehende Verlöbnis mit der Tochter eines Gymnasiallehrers, um eine gewinnbringendere Liaison eingehen zu kön­nen:»Ich will nun einmal nicht«, ruft er ganz realistisch aus,»der deutsche Philister sein, den die Liebe aus mir formen soll.« 48 Sein Vater Franz ist unter dem Einfluss des mit deutlich jüdischen Kon­notationen versehenen Bankiers Löwenberg kurz davor, die bisher in Fami­lienbesitz befindliche Fabrik in eine maßlos überbewertete Aktiengesell­schaft umzuwandeln und so die Aktionäre gleich mit der Neuemission zu betrügen; seine Tochter Julie schließlich gibt dem sie verehrenden, aber mittellosen Maler Edmund Wastl unmissverständlich zu verstehen, dass sie ihre modernen Ansprüche auf Kleidung, Reisen und Gesellschaft unter kei­nen Umständen einzuschränken gewillt ist:»Wissen Sie noch immer nicht, daß ich eine realistische Natur bin und mir etwas darauf einbilde?[...] mir ist alles deutsch -sentimentale Wesen verhaßt.« 49 Der amerikanische Onkel unterwirft nun alle Figuren des Stücks einer Charakterprobe, indem er sie zunächst regelrecht dazu verführt, sich auf eine noch extremere Realismus-Position einzulassen; dies aber nur, um die gesamte Familie auf diese Weise letztlich wieder für den alten deutschen Idealismus zurückzugewinnen: Bei meinen lieben Deutschen finde ich Herz und Kopf nicht mehr ganz auf der richtigen Stelle; sie haben ihrer Natur einmal einen Stoß gege­ben, um große Dinge zu erreichen, und sind darüber ein wenig aus dem Gleichgewicht gekommen. Was sie sich sonst als Tugend anrechneten und was sie so liebenswürdig machte, das meinen sie nun verstecken zu müssen, damit man sie für ächte Realisten halte, denen die Welt gehört. Pah! Noch fühlen sie sich sehr unbehaglich in dem neuen Rock, der ih­nen gar nicht auf den Leib passen will aber wer weiß, was mit der Zeit ...? Gut denn! Versuchen wirs erst einmal in nächster Nähe, den bösen Geist mit Beelzebub auszutreiben. Meine Realisten sollen zeigen, ob sie wirklich die Leute sind, für die sie gelten wollen. Und wenn sie die Probe bestehen, dann ade Deutschland ! Mit dem nächsten Dampfer kehre ich zurück nach Amerika ! 50 Diese Verschiebung der Charaktere zu Realisten beginnt damit, dass Onkel Roderich seinem Neffen Robert die Vermittlung einer nicht mehr ganz jun­gen, aber finanziell potenten Witwe in Aussicht stellt. An Robert ist es nun,