76 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte sich als echter Realist zu erweisen, indem er einwilligt und dem Onkel bekräftigend versichert:»Du sollst die Deutschen nicht mehr Schwärmer und Träumer nennen –!« 51 Dem Maler Wastl bietet Roderich im Auftrage eines amerikanischen Museums an, gegen eine Summe von»zehn- bis zwölftausend Thaler jährlich« 52 italienische Meister zu kopieren, allerdings mit der Auflage,»in aller Form zwanzig Jahre lang auf jede eigene Kunstthätigkeit zu verzichten«; 53 Charlottes Vater, dem Gymnasialprofessor und Altphilologen Emanuel Knorr(»so bin ich alt geworden und doch zu nichts Reellem gekommen« 54 ) kauft er für 1 Mark pro Band die in Jahrzehnten zusammengetragene Bibliothek ab; seinem Bruder Franz schließlich vertraut Roderich das Geheimnis einer im Garten vergrabenen Volkskasse aus der 1848er Zeit an, mit der Franz seine angeschlagene Firma sanieren könnte. Auf die eine oder andere Art wird so jede Figur des Stücks durch die » kluge Berechnung«, 55 also das kalkülhaft-realistische Handeln des eigentlich idealistisch gesinnten Onkels auf eine extrem realistische Position hin verschoben, wie sie sonst nur vom stets mit kalter Berechnung handelnden Bankier Löwenberg 56 eingenommen wird. Was dann folgt, ist eine Reihe von Charakterproben auf die Ernsthaftigkeit der eingenommenen Positionen. Denn kaum sind sämtliche Figuren im Feld des Realismus platziert, so werden sie in Situationen versetzt, die sie zwingen, ihre Entscheidung gegen die aufgegebenen ›idealen‹ Werte noch einmal zu überdenken. Als Resultat rücken alle Figuren – Szene für Szene – von ihrem vermeintlichen Realismus wieder ab: Knorr will seine Bibliothek zurück, weil er den Auftrag erhält, einen Goedeke der klassischen Literatur zu verfassen, was ohne die Bibliothek nicht möglich ist. Wastl wählt die Kunst, zieht es also vor, seine Julie zu malen anstatt zu heiraten, und gewinnt damit ihr zuvor noch den modisch-materiellen Dingen sichtlich zugetanes Herz; 57 Robert entscheidet sich in dem Moment für Charlotte, als ihr Onkel Roderich selbst einen ausdrücklich realistischen Heiratsantrag unter explizitem Ausschluss von Gefühlen macht; bei Franz Werwein obsiegen die moralischen Skrupel, und er meldet – preußisch-ordnungsgemäß – den Fund der Geldkassette in seinem Garten der Polizei. Sind also am Schluss wieder alle Idealisten? Keineswegs! Schaut man genauer hin, so entpuppt sich die Positivfigur des Onkels Roderich wie auch die Position seiner komplementär angelegten Immer-noch-Jugendliebe Friederike als die von real-idealistischen Mischcharakteren. Denn gerade der Onkel bedient sich ja ausgesprochen realistischer Kalküle zur Durchsetzung seiner Ziele. Mit seinem Charakterbild favorisiert das Stück also eine Position des Real-Idealismus und hätte vielleicht besser ›Die Real-Idealisten‹ geheißen. Strukturell kommt dies dadurch zustande, dass das dominante Oppositionspaar von ›Verstand versus Gefühl‹ zwar die Bereiche Realismus und Idealismus voneinander trennt, beide aber jeweils noch einmal in einen
Heft
(2022) 113
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